Wir haben uns längst daran gewöhnt, dass Gewerkschaften immer wieder einmal Zugeständnisse bei der Arbeitszeit fordern. In den 1970er Jahren war das Ziel die 35-Stunden-Woche. Arbeitgeber liefen Sturm dagegen. Heute werden flexible Arbeitszeitmodelle bevorzugt, Zeitkonten, Home-Office, Jahres- oder Lebensarbeitszeit, je nach Branche, Firmengröße und Standort unterschiedlich. Dann gibt es aber auch die Halsabschneidermodelle wie selbständiger Unternehmer einer ein-Personen-Firma oder Ausflaggung in Billiglohnländer.
Vor dem Hintergrund prekärer Arbeitszeitmodelle in der Luftfahrt, Nichtanrechenbarkeit von Bereitschaftszeiten, An- und Abfahrt und Vorbereitungszeiten, scheinselbständiger Piloten mit Arbeitsverträgen aus Niedriglohnländern will ich an eine alte Geschichte aus dem Jahr 1952 erinnern.
Eine Lockheed Lodestar einer französischen Chartergesellschaft hatte einen Flugauftrag von Nizza nach Abidjan mit Zwischenlandungen in Algiers, El Golia und Tamanrasset. Hier übernachteten Crew und Passagiere. Der Weiterflug am folgenden Tag nach Abidjan sah Tankstopps in Gao und Ouagadougou vor. Die Crew übernachtete nach der Landung in Abidjan. Für den Rückflug am folgenden Tag war eine Übernachtung in Tamanrasset vorgesehen. Doch Flug und Tankstopp in Gao verzögerten sich, die Ankunft in Tamanrasset bei Tageslicht war nicht mehr zu machen. Flughafen und Piste hatten auch keinerlei Befeuerung.
Also entschloss sich der Käpten, die Nacht mit seiner Crew in Gao zu verbringen und plante einen Start am nächsten Morgen um 09:00 Uhr. Er kommunizierte auch, dass er sehr müde sei. Im Laufe des Abends meldete sich die Airline bei ihm und befahl einen frühen Start um 03:00 Uhr morgens.
Als er zwei Stunden nach Mitternacht bei der Wetterberatung auftauchte und seinen Flugplan aufgab, traf er auch den diensthabenden Fluglotsen. Er erzählte ihm, dass er noch immer todmüde sei. Außerdem müsse er – von den Tankstopps abgesehen – von Gao bis Nizza ohne weitere Pause durchfliegen, sein Flugzeug habe keinen Autopiloten, und er müsse auch noch den Job des Navigators machen. Er hatte geradezu Angst vor dem Flug und bedrängte den Fluglotsen, ihm den Start zu verbieten. Doch der Lotse hatte dafür keine Handhabe, da der Flugplan ordnungsgemäß aufgegeben war.
Schließlich wurden die schläfrigen Passagiere beladen, das Flugzeug rollte zum Start. Sieben oder acht Minuten lang ließ der Käpten die Motoren hochdrehen, als würde er hoffen, es könnte sich doch noch ein technischer Defekt zeigen. Dann löste er die Bremsen und begann seinen Startlauf. Nach 900 m hob die Lodestar ab, fiel aber 15 Sekunden später wieder zurück auf den Boden. Das Wrack wurde zwei Kilometer hinter dem Pistenende gefunden. Von den 21 Menschen an Bord überlebten nur drei.
Beim Studium lange zurückliegender Flugunfälle stößt man immer wieder auf Fälle von Übermüdung, besonders zu der Zeit, als noch mit vielen Zwischenlandungen geflogen wurde. Wenn dann der Arbeitstag zu Neige ging, abendlicher Regen einsetzte, die Erschöpfung ihren Tribut forderte, dann wurden die Landungen schwieriger und die Entscheidung trotzdem noch zu einem Ausweichflughafen zu fliegen immer unwahrscheinlicher. Der Unfall von Little Rock im Jahr 1999 ist ein Beispiel dafür, dass trotz neuerer Erkenntnisse die fliegenden Besatzungen und ihre Arbeitszeiten Kostenfaktoren mit allerlei Optimierungspotential waren.
Die europäische Agentur für Flugsicherheit EASA nahm sich diesen Komplex vor und erarbeitete ein Regelwerk mit 244 Seiten, das seit Frühjahr 2016 für alle Staaten Europas verbindlich ist. Um das Dokument in der Praxis anzuwenden, braucht man nicht nur einen Vollzeitanwalt, es ist fast nur noch durch Computerprogramme zu bewältigen. In dem Dokument, das der körperlichen und geistigen Erschöpfung im Flugdienst Rechnung trägt, werden erstmals Begriffe definiert, die in der Vergangenheit von Personalbüros gerne im Interesse der Firma ausgelegt werden konnten: BEREITSCHAFTSZEIT, RESERVEZEIT, AKKLIMATISATION, UNTERKUNFT, ANGEMESSENE UNTERKUNFT, FLUGZEIT, BLOCKZEIT, FRÜHER BEGINN, SPÄTES ENDE, NACHTDIENST; RUHERAUM (unterteilt in CLASS 1, CLASS 2 und CLASS 3 REST FACILITY), SPLIT DUTY und ULTRA LONG RANGE OPERATION. Festgeschrieben ist auch, dass Bereitschaftszeit KEINE Dienstzeit ist, jedoch zu 25% als Dienst im Sinne kumulativer Dienstzeiten zählt. Außerdem wird in die Berechnung einbezogen, dass das Durchfliegen mehrerer Zeitzonen Auswirkungen auf den Biorhythmus und die Akklimatisations- und Erholungszeiten hat. Die EASA musste besonders beim Nachtdienst medizinisch-wissenschaftliche Erkenntnisse in ein Regelwerk umsetzen.
Mehr Leistung von den Crews zu fordern war lange Zeit geübte Praxis. Doch jeder Handwerker kennt das: Man kann eine Schraube immer noch ein Stück fester anziehen, bis das Material, das Gewinde oder die Schraube selbst bricht.
Andreas Fecker
Das ist es, was ich meine:
Lufthansa kürzte die Erholung für Crews in Asien