In den letzten Wochen ist immer wieder von Thrombosen die Rede. Es handelt sich dabei um die Verstopfung einer Blutbahn. Es kann dabei zum Infarkt kommen. Was im Kleinen bei Menschen passiert, kommt auch in der Wirtschaft vor, wenn eine Arterie des Welthandels verstopft wird. Am 23. März kam das 400 m lange Containerschiff „Ever Given“ bei Sandsturm und schlechter Sicht vom Mittelkurs des Suezkanals ab und rammte den Bug am sandigen Ufer in den Grund. Das Heck stellte sich quer und das war’s. Eines der größten Containerschiffe der Welt, verkeilte sich im Kanal und blockierte damit eine der wichtigsten Wasserstraßen des Welthandels. Der Vorfall ist ein Musterbeispiel der Globalisierung: Schiffseigner ist der japanische Konzern Shoei Kisen, Betreiber ist die BSM aus Deutschland, gechartert ist das Schiff von der Reederei Evergreen in Taiwan, versichert ist es in England, die Fracht stammt aus China. Das Schiff fährt – Überraschung – unter der Flagge Panamas. Die technische Prüfung obliegt einer amerikanischen Gesellschaft. Das beauftragte Bergungsunternehmen ist aus Holland. Der indische Schiffskapitän dürfte trotz Anwesenheit eines ägyptischen Lotsen einen Karriereknick befürchten. Ein Anwalt für internationales Seerecht würde wohl Wochen brauchen, diesen komplexen Fall und die verschiedenen Verantwortlichkeiten aufzudröseln. Das scheinbar harmlose Missgeschick entwickelte sich in kürzester Zeit zu einer Katastrophe für die ganze Weltwirtschaft, die jeden von uns Bürgern in verschiedenster Weise treffen wird. Auch 80.000 PS und zehn Hochseeschlepper und Bugsierer vermochten nichts mehr auszurichten. Der Stahlkoloss lag sieben Tage lang verkeilt wie eine Brücke zwischen den beiden Ufern. Bei Ebbe lastet das Gewicht von 20.000 Containern auf der Mitte des Schiffs, weil der Auftrieb nachließ. Eine Entladung in der Wüste ohne Kräne auf festen Kaimauern war unmöglich, denn jeder Container ist 6 m lang, 2,50 breit und 2,60 hoch und bis zu 20 Tonnen schwer! Bagger wühlten sich daher in den Grund um 20.000 Kubikmeter Sand am Bug des Schiffs zu entfernen. Man könnte mit dem Aushub acht Schwimmbecken olympischer Ausmaße zuschütten. Unterstützt wurden die Bagger von einem holländischen Saugschiff, das Sand und Schlamm unter dem Schiff ausräumte. Gleichzeitig wurde Treibstoff abgepumpt.
In diesen sieben Tagen stauten sich an beiden Einfahrten des Kanals 370 Schiffe, die auf freie Durchfahrt warteten, darunter elf rumänische Frachter mit 130.000 lebenden Schafen. Andere verloren die Geduld und machten sich auf den langen Weg rund um Afrika. Die Allianz-Versicherung rechnet mit schlappen zehn Milliarden Dollar Verlust pro Woche. So kam nun zu den Corona-bedingten Störungen der Lieferketten auch noch dieser Flaschenhals hinzu.
Auf dramatische Weise wurde die Welt daran erinnert, wie wichtig dieser Kanal für die globale Wirtschaft ist. 19.000 Frachtschiffe benutzen ihn pro Jahr und befördern Öl, Rohstoffe, Chemie, Stahl, Kohle, Papier, Schutzausrüstung für die weltweit wütende Pandemie, Kosmetika, Ersatzteile, Elektronik, Bauteile für Großmaschinen, Getreide, Fahrzeuge und tausend andere Dinge des täglichen Lebens. Wir werden das bald an den Preisen spüren, denn an der Fracht sind ca. 10.000 Ladungseigner aus aller Welt beteiligt. An vielen der knapp 20.000 Containern sind nämlich leicht 20 Spediteure und Handelsketten involviert.
Die Blockade wirkt sich auf den global zur Verfügung stehenden Transportraum aus. Der Container-Kreislauf ist erst einmal massiv gestört, die wertvollen Transportbehälter befinden sich unvermutet am falschen Ort, leere Container verstopfen Frachthäfen, während volle nicht verladen werden können. Gleichzeitig sind dort die Arbeiten behindert durch COVID-19 Ausfälle, Hygiene- und Abstandsregeln. Hapag-Lloyd schickte 52 Schiffe auf die Reise, um hunderttausende von leeren Containern dorthin zu bringen, wo sie dringend gebraucht werden. Kostete der Transport eines 6-m-Containers vor einem Jahr noch 2000 Dollar, kostet er jetzt 14.000 USD.
Auch nach der Bergung des Schiffes wird es noch lange dauern, bis das Knäuel von wartenden Schiffen aufgelöst ist. Der Kanal ist nämlich nicht in voller Länge in zwei Richtungen befahrbar. Die Schiffe fahren im Konvoy durch den 193 km langen Kanal. Üblicherweise benötigen sie dafür 11 Stunden. Die Ever Given liegt nun im Großen Bittersee. Die ägyptischen Behörden haben sie bis zur Klärung der Schuldfrage und Einigung über den Schadenersatz von voraussichtlich einer Milliarde Dollar an die Kette gelegt. Ein verhältnismäßig überschaubarer Betrag wenn man ihn mit dem Warenwert vergleicht, der auf dem Schiff ist: 3,5 Milliarden Dollar! Auch das Bergungsunternehmen erhebt stolze Ansprüche. Der Bergelohn richtet sich nach der Salvage Convention, ein Vertrag, den die meisten maritimen Staaten unterzeichnet haben. Inwieweit die Evergreen Line mit 197 Schiffen und 1,3 Millionen Containern das wegsteckt, soll hier keine Rolle spielen. Die Zahlen der Reederei Maersk sind fast viermal so hoch.
Während die Wirtschaft litt, lag es nahe, wenigstens die wichtigsten Güter per Flugzeug zu befördern. Aber auch diese Lieferketten sind derzeit gestört. Denn viele Waren würden normalerweise zu halbwegs günstigen Preisen in den Frachträumen der Passagiermaschinen um den halben Globus reisen. Der weltweite Passagierverkehr ist jedoch um etwa drei Viertel eingebrochen, ganze Flugzeugflotten sind auf Wüstenflughäfen eingemottet. Davon profitieren jetzt die Cargo-Airlines. Deren Tarife sind bis auf das Dreifache gestiegen. Angebot und Nachfrage regeln halt auch hier den Preis.
Viel wichtiger ist es aber, die Warnung nicht zu ignorieren, die die Welt erhalten hat: Die globalen Versorgungswege können jederzeit zusammenbrechen. Sei es einer weltweiten Pandemie geschuldet oder dem Steuermann eines einzelnen Schiffes. Dass ein einziges Unglück die Versorgungsrouten bestimmter Güter zwischen Los Angeles, Emden und Shanghai unterbrechen kann, sollte uns zu denken geben. Wo lassen wir was produzieren, wo sind unsere Quell- und wo unsere Verkaufsmärkte? Diese Abhängigkeiten haben uns reich gemacht, können uns aber auch empfindlich treffen. Just-in-time war in den letzten Jahrzehnten die Devise. Rechtzeitig einkaufen, die Shipping Time drauf addieren und die Teile kamen termingerecht zum Einbau in die Fabrik. Das ersparte Lagerkosten, Bau und Unterhalt von großflächigen Hallen und Gehältern von Mitarbeitern. Und man konnte stolz darauf schreiben: „Made in Germany“. Und jetzt?
Andreas Fecker
Ich bin 100kg schwer und eine Thrombose macht mir gerade zu schaffen. Ich fühle mich wie die Welt im Kleinen mit ihrem Suezkanal. Ja, man muss mehr auf kompliziert und feinfühlig Abgestimmtes, wie unseren Körper im Minimal-, oder unsere Erde im extrem-Maximalprinzip achten. Und „Made in Germany“ war schon etwas, das man beachtete, was aber immer mehr schwindet. Eigentlich schade.
Toller Artikel
Hallo Andi,
wieder einmal glänzend recherchiert und – vor allem – resümiert.
Liebe Grüße und frohe Ostern
Porgy
Die Suez-Blockade war nicht mehr als ein Mückenstick. Ein Carrington-Ereignis wird sich wiederholen. Dann steht alles still außer der Erdrotation. Nur noch alte Saugdiesel werden fahren bis der Tank leer ist. Die Wiederbelebung wird Jahre brauchen, wenn überhaupt. Der geschundene Planet wird sich ein Stück erholen.