Am 29. August 1960 starteten Milton Terra Verdi und sein Schwager Antonio Gonçalves im brasilianischen Rio Preto mit einer Cessna 140 zu einem Flug nach Kolumbien. Über dem bolivianischen Dschungel ging ihnen der Treibstoff aus. Milton setzte das Flugzeug in einer Waldlichtung relativ unbeschädigt auf. Die Suche aus der Luft brachte wie so oft im Dschungel des Amazonasgebietes nichts. Erst Monate später fanden Ranger des Nationalparks Kaa Iya del Gran Chaco das vollkommen überwucherte Flugzeug. Und zwei Leichen. Und eine Art Tagebuch des Todes, geschrieben auf der Rückseite von Fliegerkarten und Zeitschriften, in dem Milton Verdi das Drama beschrieb, das sich abspielte. Der Gran Chaco ist ein Trockenwald mit geringem Niederschlag. Miltons Schwager hielt die Kälte, den Hunger und vor allem den Durst nicht aus. Nach einer Woche durchschnitt er im Delirium einen Benzinschlauch und trank von dem restlichen Treibstoff. Milton ernährte sich von Vögeln und Schildkröten und lebte noch 40 Tage länger. Sein Tagebuch wurde später unter dem Titel „Das Tagebuch der Todes – Die Tragödie der Cessna 140“ veröffentlicht.
An einer Stelle schreibt Milton: „3.9. – Ich bin allein, ich habe niemanden zu sprechen, ich habe Heimweh nach meiner Frau, nach meinen Kindern, nach meinen Eltern und Geschwistern. Ich denke an Antonios Töchter, sie haben nun keinen Vater. Wenn Gott mich hier lebend herauskommen lässt, will ich mich um sie kümmern, als ob sie meine eigenen wären. (…) O Gott, ich kann das Wasser nicht mehr rationieren. Ich darf doch nur meine Lippen benetzen! Ich habe höchstens noch 6 oder 7 Schlucke, ich muss mich beherrschen, dies hier nicht bald zu beenden.“
Milton hatte zuvor nicht viel von Bescheidenheit gehalten. Nun reflektiert er auch darüber, was wichtig ist im Leben: „9. Tag. Ich mache mir keine Illusionen mehr. Heute bedeutet ein Liter Wasser für mich alles. Es ist das billigste, was wir haben, doch es ist mehr wert, als alles Geld der Welt. Ein Teller mit Reis und Bohnen ist nicht mit Geld zu bezahlen. Wenn Gott uns noch eine Chance gibt, werden wir die bescheidensten Menschen der Welt zu sein. Wir wollen nur unser Essen, viel Wasser, und für unsere Frauen, Kinder und Familien sorgen. Meine liebe Frau, hingebungsvolle Mutter meiner Kinder, ich bitte Dich, mir für die schlechten Zeiten zu vergeben. Ich sehe jetzt, dass materielle Werte nur Illusionen sind. Wasser, tägliche Nahrung sind mehr wert als alles in der Welt. Wie wichtig ist mir Deine Zuneigung und die unserer Kinder! Du sollst wissen, dass Du die einzige Liebe meines Lebens bist. Zweifle nie daran, es sind die Worte eines sterbenden Mannes.“
Miltons Schrift wurde immer kleiner, je weniger Platz auf dem Papier übrig war. „Seid gütig zueinander. Lasst niemals jemand durstig gehen, es ist das Schlimmste auf der Welt. Ein einfacher Lebensstil. Ohne Luxus. Körperliche und geistige Gesundheit ist viel wichtiger. Fragt einen Arbeitslosen, was ihm wichtig ist. Fragt einen Kranken, was ihm wichtig ist. Fragt einen Einsamen, was ihm wichtig ist. Menschen, die an irdische Dinge gebunden sind, sind viel zu undankbar für ihre Güter.“
Warum erzähle ich diese alte Geschichte ausgerechnet zu Heilig Abend? Der Fund beendete die monatelange Phase quälender Ungewissheit für die beiden Familien, die ja nicht wussten, ob die beiden tot oder einfach verschollen waren und noch auf Rettung hofften. Die Cessna wurde ausgerechnet an Heilig Abend jenes Jahres gefunden. Das gereichte den Familien in ihrer Ungewissheit zur Erlösung. Das „Tagebuch des Todes“ wurde zu einer unfreiwilligen Weihnachtsbotschaft mit einem besonderen Gewicht. Ab dem Tag seiner Beerdigung stellten die Menschen in Miltons Heimatort Rio Preto über Jahre hinweg massenhaft Becher an seinem Grab ab, die mit frischem Wasser gefüllt waren. So wurde Miltons Tod zu einer immerwährenden Erinnerung an die Bescheidenheit.
Von Andreas Fecker
Lieber Andy, nachdenkliche Story; die elementaren Dinge vernachlässigen wir zu oft! Danke für die Erinnerung! Grüße Markus
Danke für diese Luftpost, mega tragisch, für die beiden Piloten, aber ebenso für deren Angehörige.. Und heutzutage die Wasserknappheit an so vielen Orten, sodass es einen manchmal fast verzagen lässt, wieso wir nicht imstande sind dafür zu sorgen, dass Fairness und Versorgung allen Menschen zuteil werden kann… Es gibt Unglücke und Schicksale, die keiner vorhersehen oder verhindern kann, aber das Leid, das durch das eigene Verschulden einiger habgieriger Großkonzerne entsteht, das könnte verhindert werden, und das sollte es! Insofern: die eigene Bescheidenheit und Dankbarkeit bewahren ist wichtig. Aber ebenso ist es wichtig, seine Stimme wo immer möglich auch für die Hilfe derer, denen sogar das Elementarste fehlt, einzusetzen. Liebe Grüsse, Chris