Es bedarf nicht viel, um unser Land in Chaos zu stürzen. Oft genügt schon ein einfacher Ferienbeginn und schon stauen sich die Autos bisweilen über 100 km. Oder ein Bahnstreik. Oder ein Streik der Piloten oder Fluglotsen. Erinnern wir uns an die Aschewolke von 2010? Trotz blauen Himmels standen unsere Flughäfen still, die Straßen waren voll, Züge quollen über, nirgendwo war mehr ein Taxi oder ein Mietwagen zu bekommen. In den Supermärkten leerten sich langsam die Regale. Plötzlich quietschte es in der Versorgung unserer Just-in-Time-Gesellschaft. Dabei dürfte es dazu gar keinen Anlass geben; keine eingestürzten Brücken, Häuser, Ministerien, Kasernen, keine Erdrutsche, keine Risse in den Landebahnen, keine geborstenen Wasserleitungen, keine Stromausfälle, kein Ascheteppich, der sich zentimeterdick über alles öffentliche Leben legt. Unsere Polizei, Rettungsdienste, Katastrophenschutz sind intakt, unsere Bundeswehr hat schweres Gerät und große Hubschrauber. Kurzum, wir sind eigentlich gerüstet.
Sind wir das wirklich? Wenn unser tägliches Leben schon durch kleinste äußere Einflüsse aus dem Gleichgewicht gebracht werden kann, wie sähe es dann bei einer plötzlich eintretenden Katastrophe aus? Städte und Gemeinden müssten sich auch darauf vorbereiten, dass sie unvermittelt für eine begrenzte Zeit von der öffentlichen Versorgung abgeschnitten werden. Trinkwasser, Brennstoffe, Rettungsgeräte und Notvorräte müssen vorgehalten, gepflegt und erneuert werden. Je größer die Gemeinde, umso sorgfältiger müssen diese Pläne ausgearbeitet sein. Da aber speziell Bevorratung und regelmäßiger Ersatz von abgefülltem Wasser und Lebensmittelvorräten wegen der Haltbarkeit eine teure Angelegenheit ist, wird hier gerne gespart. Der Bürger würde es nicht einsehen, wenn knappes Geld an verderbliche Waren verschwendet würde, die über Jahrzehnte sowieso nie gebraucht wurden. Da ist sogar schnell das in immer kürzeren Abständen auftretende „Jahrhunderthochwasser“ vergessen. Aber wehe, der Ernstfall tritt ein, dann wird wieder über „die Politiker“ gelästert, die „mal wieder nicht vorgesorgt hatten“. Die 50 Jahre alten Großhubschrauber der Bundeswehr unterliegen derzeit übrigens auch größeren Einschränkungen.
Nepal
Vergleichen wir einmal Deutschland mit Nepal. Von Flensburg bis Konstanz misst unser Land knapp 800 km Luftlinie. Nepal ist mit 850 km sogar noch länger, dafür nicht so breit. Das deutsche Straßennetz ist durchgehend allwettertauglich und hat einschließlich Autobahnen und Gemeindestraßen eine Gesamtlänge von 644.000 km. In Nepal ist nur die Hälfte der 17.000 Straßenkilometer allwettertauglich. Während Deutschland Höhen von 0 bis knapp 3000 m abdeckt, reicht Nepal von 70 m über dem Meer bis zum Gipfel des Mt. Everest auf fast 9000 m. 40% des Landes liegen über 3000 m Höhe. Die Flughäfen in Nepal sind meist schwierig anzufliegen und haben kurze Pisten. Lukla zum Beispiel gilt als einer der anspruchsvollsten Airports der Welt. Die 527 m lange Piste hat eine Steigung von fast 20%. Sie liegt auf 2860 m, beginnt an einem Felsvorsprung und endet an einer Felswand. In wenigen Ländern der Erde hat das Wetter einen so entscheidenden Einfluss auf die Fliegerei wie in Nepal.
Der Flughafen Katmandu besitzt eine einzige Piste, ein internationales Terminal mit acht Stellplätzen. Einer davon wird derzeit durch eine türkische A330 belegt, die dort vor einem Monat eine Bruchlandung hingelegt hat. Daneben gibt es noch Parkflächen für die kleinen Inlandsmaschinen vom Typ Twin-Otter. Diese können nicht für die Entladung großer Flugzeuge benutzt werden. Zu allem Unglück wurde der nach dem Erdbeben flüchtig reparierte Asphalt der Piste in Katmandu auch noch durch superschwere amerikanische Transporter wie dem C-17 Globemaster mit einem Landegewicht von etwa 200 Tonnen weiter beschädigt. Fortan mussten kleinere Cargo-Flugzeuge die Fracht anliefern. Das bedeutet, dass die Hilfe im großen Stil gar nicht zeitnah durch diesen Trichter geschleust werden kann. Auch die Flugsicherung in Nepal kann das dichte Flugverkehrsaufkommen nicht verkraften. Katmandu ist zwar nicht der einzige Flughafen des Landes, aber der mit der längsten Piste. So müssen die Hilfsflüge auf indische Flughäfen umgeleitet werden, wo die Crews dann entweder auf ihren Slot warten oder abladen, im Vertrauen darauf, dass die Güter auch irgendwann nach Nepal gelangen werden. Gleichwohl bittet das gebeutelte Land die Weltgemeinschaft um zwei Millionen Zelte, Wasser, Nahrungsmittel und Medikamente.
Der nächste Engpass ist das Entladungsequipment, das gar nicht in ausreichender Menge vorhanden ist. Schließlich weiß man schon gar nicht mehr, wohin mit den Flugzeugladungen, denn die wichtigste und einzige Straße in Richtung Epizentrum ist vielerorts verschüttet. Schweres Räumgerät in die Erdbebenregion zu bringen ist nicht nur deshalb fast unmöglich. Die abenteuerlichen Bergstraßen sind dafür gar nicht gebaut.
Bleiben noch die Hubschrauber. Nepals Armee hält noch ein paar betagte Krücken am Fliegen, 2014 gab es nur noch eine einzige russische Mi-17, die auch schwere Lasten tragen kann. Außerdem gibt es noch einige private Hubschrauberunternehmen, die für viel Geld vor allem in der Everest Region Bergtouristen fliegen. Die indische Armee schickte außerdem acht Helikopter, England hat drei Chinooks versprochen und die US-Navy wird wieder einmal aushelfen. Aber es fehlt auch an Treibstoff für Flugzeuge, Hubschrauber, Lastwagen, Notstromgeräte.
Katastrophenplanung
Das Szenario wiederholt sich nach jedem großen Erdbeben in fast jedem Land der Erde. Die unvermeidliche post-katastrophale Chaos-Phase dauert meist eine Woche. Denn Chaos droht immer dann, wenn Menschen plötzlich mit dem Tod von Angehörigen und Obdachverlust, mit Hunger, Durst, Kälte, Hitze und Verletzungen konfrontiert werden, und wenn zahlreiche Länder, Armeen und Hilfsorganisationen versuchen, in einer unkoordinierten Weise Hilfe vor Ort zu leisten. Der Schock sitzt tief, die Angst ist groß, Verwaltungen sind verschüttet, die gewohnten Befehlsstrukturen genauso unterbrochen, wie Straßen, Strom und Telefon. Die Hilfe von außen kommt nicht nach innen, eine Koordination findet nicht statt. Es gilt also stets, so schnell wie möglich eine Befehlsstruktur herzustellen. Dann muss die Logistik aufgebaut, medizinische Versorgung organisiert, die Kommunikation hergestellt, die Reste der Regierung wieder arbeitsfähig gemacht und den Helfern die Sicherheit garantiert werden.
Bei der Desaster-Planung spielen Airports und Seehäfen die wichtigste Rolle, denn über diese Punkte kommt die Hilfe von außen ins Land. Es folgen Straßen und Brücken, Eisenbahnen falls vorhanden. Aber es reicht eben nicht, dass alles auf dem Papier existiert. Anzahl und Zustand von Standflächen und Entladegeräten am Airport bestimmen den Durchsatz und die Größe von Hilfsflugzeugen. Ist Flutlicht da, kann man bei Nacht durcharbeiten, bei schlechtem Wetter benötigt man funktionierende Navigationshilfen, Ausweichflughäfen ermöglichen Überlaufkapazitäten. Wie ist der Zustand von Straßen und Brücken? Sie bestimmen Anzahl, Typ, Gewicht und Größe der Hilfsfahrzeuge. Das wiederum hat Einfluss auf die Dauer der Transporte. Müssen Erdrutsche weggeräumt werden? Behelfsstraßen gebaut? Wird schweres Gerät benötigt? Dann braucht man schwere Großhubschrauber. Kleinere Helikopter werden benötigt, um Helfer zu Einsatzorten und Schwerverletzte zu Krankenhäusern, Schiffen oder ins Nachbarland zu fliegen. Und schließlich kann man gar nicht genug Lastwagen und Vans haben.
Die zerstörten Verkehrswege und zehntausende von eingestürzten Häusern machen den Helfern und Logistikern stets neues Kopfzerbrechen. Nach dem Erdbeben auf Haiti 2010 war der Flughafen der Hauptstadt Port-au-Prince völlig überlastet. Auch dort mussten ankommende Flugzeuge mit Hilfsgütern umkehren oder auf den Flughäfen der Dominikanischen Republik landen. Die schnelle Hilfe kam nicht so an wie geplant. Auch der Landweg von der Dominikanischen Republik nach Haiti war ausgeschöpft.
Unvermeidlich in dieser Situation ist auch das Unverständnis über die scheinbar fatalistische Einstellung von Behörden und Politikern. Das gipfelt bisweilen in wüsten Beschimpfungen. Aber wenn straff organisiertes Desaster Management bereits in einem hochtechnisierten Land wie den USA Anlaufschwierigkeiten hat, wie wir 2005 nach dem Hurrikan Katrina erleben mussten, um wieviel schwieriger wird es in einem armen Bergstaat wie Nepal mit 26 Millionen Einwohnern sein, wo die Infrastruktur schon unter normalen Umständen beklagenswert ist! Ich werbe daher bei Politikern, NGOs und Bürgern aller Länder um mehr Mut und Vertrauen für vorausschauendes Handeln, Weitsicht und aktive Teilnahme an vorbeugenden „Get-Airports-Ready-for-Disaster“ Programmen (GARD). Bei Betroffenen und ausländischen Helfern geht es vor allem um etwas mehr publizistische Zurückhaltung und Geduld. Katastrophen sind Bewährungsproben für jedes Staatswesen. Sie sind aber auch Chancen für die Menschheit, Vorurteile und Egoismen zu überwinden und Menschlichkeit zu demonstrieren.
Von Andreas Fecker