Luftpost 486: Bildbeschreibung

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Graffito in Montevideo, Uruguay – Foto Andreas Fecker
Foto: Fecker

Wenn unsere Deutschlehrerin am Suso-Gymnasium zu Konstanz die Aufsatzhefte verteilte, stöhnte die halbe Klasse auf. Wenn sie uns dann auch noch aufforderte, das Lesebuch herauszuholen und eine bestimmte Seite aufzuschlagen, war Frust oder Panik angesagt, denn eine Bildbeschreibung war so ziemlich das unbeliebteste Aufsatzthema im Deutschunterricht. Ich war offenbar einer der wenigen, die sich darüber gefreut haben. Ich finde es noch heute spannend, mich in die Gedanken eines Künstlers, in den Ausdruck faltiger Gesichter zu vertiefen, den Charakter zu ergründen, Stimmungen zu deuten, die Kunstfertigkeit zu bewundern, über den Hintergrund auf die Lebensumstände zu schließen, mich über die gewählten Farben zu wundern, versteckte Details zu entdecken und meiner Fantasie freien Lauf zu lassen. Das Foto oben entstand am 10. November 2007 in einem der ärmeren Viertel von Montevideo, der Hauptstadt von Uruguay. Meine Frau und ich machten einen Abendspaziergang, als wir dieses Wandgemälde entdeckten. Ein Flugzeug, na und? Was jedoch auffällt, ist die Mühe, die sich ein Junge gegeben hatte, das Flugzeug vom grauen Hintergrund abzuheben. Offenbar war dort ein Fenster zugemauert und frisch verputzt worden, was den Künstler einerseits als Leinwand diente, ihn aber nicht daran hinderte, auch die benachbarte Fläche zu nutzen. Statt nur die Umrisse eines Flugzeugs gegen die schimmelfeuchte Wand zu kritzeln, füllte er den Flugzeugkörper sorgfältig mit strahlend weißer Farbe, wie neue Flugzeuge nun mal ausgeliefert werden. Das Leitwerk ist etwas zu klein geraten, aber die Perspektive der Tragflächen ist gelungen. Vier Motoren treiben die Maschine in Pfeilrichtung an.
Zehn Fenster reihen sich hinter dem Cockpit aneinander. Im Cockpit sitzt natürlich der Kapitän mit den Initialen LPC. Handelt es sich hier um eine Fußballmannschaft aus diesem Armenviertel? Sind es die Initialen des kleinen Künstlers? Ich fragte einen Jungen, der nicht weit davon seinen Ball gegen eine Mauer mit einem aufgemalten Tor drosch. Er erklärte mir, dass das die Anfangsbuchstaben seiner Freunde sind, und es handele sich um Klassenkameraden. „Und wer ist LPC?“ fragte ich. „Soy yo, Luis Pedro Contador“ antwortete er stolz, „das bin ich.“ Da war mir klar, dass er auch der Maler des Bildes sein musste. Ich bereue es bis heute, dass ich den Jungen nicht neben diesem Meisterwerk fotografiert habe.  Trotzdem lässt mich das Graffito seitdem nicht mehr los. Ich werte es als Ausdruck von Freundschaft und Zusammenhalt. „Elf Freunde müsst ihr sein, wenn ihr Siege wollt erringen“, schrieb 1955 der Sportreporter Sammy Drechsel. In diesem Bild hat Luis Pedro seinen Traum an die frisch verputzte Wand in einem Armenviertel gemalt. Zur Freude am Kicken mischen sich bei ihm Beobachtungsgabe, Initiative, Kreativität und Talent. Luis hat das Zeug zum Leader. Wo er ist, ist vorne.
Andreas Fecker