Luftpost 466: Beinaheabsturz

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Frank Depping – Foto: Archiv Fecker

Auch wenn man kurz vor dem Ziel ist, kann man sich noch umbringen. Das erzählt unser heutiger Gastautor Frank Depping. Seine Geschichte beginnt irgendwann Mitte 2008 im hessischen Langen:

Ich bin Soldat im Amt für Flugsicherung der Bundeswehr. Der niederländische Flugplatz Twente möchte eine Kontrollzone (CTR) einrichten. Der Platz ist grenznah, die geplante CTR berührt zivile und militärische Interessen. So begebe ich mich mit meinem DFS-Kollegen Frank auf eine besondere Dienstreise nach Rheine-Bentlage (NRW). Wir fliegen mit einer Privatmaschine, wahrscheinlich einer Piper Cherokee PA-28. Wir übernehmen das Flugzeug in Egelsbach (EDFE). Es ist ein Donnerstag, AIRAC-Update Tag. Frank berichtet, sein Garmin-Navi habe Probleme mit dem Update und sei nicht nutzbar.

„Kein Problem“ antworte ich. „Du fliegst, ich navigiere und mach den Funk“. Schließlich war ich DFS Fluglotse und habe einen PPL-C (Segelflug). Bestes Wetter in Egelsbach, Sicht ‚von Pol zu Pol‘, blauer Himmel, kein Wölkchen. Wir starten nach Norden und durchsteigen 5.000 ft MSL. Frank fliegt, ich raste die Frequenz von Langen Information (FIS) und melde mich mit Rufzeichen, Position und geplanter Route. Ich bekomme von FIS einen Squawk, raste diesen und nichts passiert. „Negative radar contact“ so der FIS-Lotse in der Kontrollzentrale auf dem Campus in Langen. „Standby short“ antworte ich und gehe mit Frank den Mode-S Transponder durch.

Mode-S Transponder waren 2008 noch ziemlich neu und hatten ein paar mehr Knöpfe als die gewöhnlichen und wir probierten alles aus: Ident, Discrete Code, recycle squawk, nichts. Schade. Also ab in den Sinkflug und unter 5.000 ft MSL, denn darunter bedarf es keines Transponders. Der Flug geht weiter, wir passieren das östliche Ruhrgebiet, die großen Kühltürme von Hamm-Uentrop ziehen links an uns vorbei. Derweil sind wir aber schon lange unter Wolken, es beginnt zu regnen.

Der Transponder lässt mir keine Ruhe. Ich probiere weitere Schritte aus, drücke Knöpfe und nehme mir das Gerät mal in Ruhe vor. Plötzlich im Funk „Delta Echo …, Langen Information, Radar Contact now“ – ach schau an, geht doch. Leider zu spät. Deutlich sind die regenschweren Cumulanten voraus zu erkennen, darüber overcast. Unsere Flughöhe irgendwo bei ca. 2.500 ft MSL, was dann auch schon fast above GND ist. Flugsicht gute 5 Kilometer. Na, dann eben weiter unter den Wolken. Wer weiß, ob sich das Loch vom Dienst auch in Rheine aufgetan hätte.

Unsere Route führt durch die Kontrollzone von Münster-Osnabrück, wir checken die automatische Wetteransage. Es ist nicht wirklich toll, aber die CTR ist VMC. Wir nähern uns von Süden dem Zielflugplatz und sinken weiter. So weit, dass mir durch den Kopf geht „so sehen also 500 Fuß GND aus“, was ich aus meiner Zeit auf dem Tower in Lechfeld noch kenne. So langsam wird es marginal, die Wolken sind aber noch erkenn- und unterscheidbar.

Trotzdem gehen mir Unfallberichte durch den Kopf. BFU-Bulletins oder Berichte von General Flugsicherheit, in denen es immer Ereignisketten waren, die niemand durchschlug und an deren Ende dann der vorher vermeidbare Crash stand. Ich habe viele davon gelesen, ich fand sie immer lehrreich, denn vielleicht käme ich ja selber mal in so eine Situation und zöge rechtzeitig eine Reißleine. Aber man beruhigt sich dann damit, dass einen das selbst ja nicht betrifft. Man ist ja schlauer. Außerdem sind wir ja fast da, gleich hinter Münster kommt schon Rheine und das schaffen wir schon.

Ich nehme Kontakt mit dem Tower in Münster auf, mit der Kollegin spreche ich fließend Englisch, macht Spaß. Bis sie sagt: „Stay outside CTR, special VFR departure of a helicopter in progress”. Moment mal, Special VFR? “Confirm CTR is IMC?” frage ich irritiert? “Affirm” kommt prompt die Antwort, sie liest mir das SPECI vor. Nun denn, wir halten südlich des Pflichtmeldepunkts SIERRA in gut 500 ft GND. Die Sicht ist noch ausreichend für den Luftraum G.

Mir kommen wieder diese Unfallberichte hoch. Und ich entdecke Parallelen: Kein Navi, kein Transponder, Wetter wird schlecht, schlägt überraschend um, Ereignisketten eben – „Verkettung unglücklicher Umstände“ heißt es da gerne… Sind Frank und ich schon mittendrin? Ach komm, wir haben Bodensicht, Flugsicht, passt schon, oder?

Dann nach 2 Vollkreisen kommt die Freigabe zum Einflug, verbunden mit dem „Report field in sight“. Ich bestätige und wir pirschen uns an den Platz heran. „Habt ihr das Aerodrome Beacon an?“ frage ich auf Deutsch, „ja klar“ kommt prompt die Antwort, bis ich es dann auch endlich sehe. „Field in sight“ reporte ich „Scheiße Sicht“ denke ich und es kommt die Aufforderung, die CTR über NOVEMBER zu verlassen. Der Punkt ist die Brücke der B 219 über den Dortmund-Ems-Kanal. „Puh, wo ist denn der Kanal eigentlich“ denke ich und suche und suche. Ich nehme den Kopf hoch und sehe nur noch grau in grau, keine Wolkenballungen mehr, nur noch graue Suppe, der Regen zieht konstanten Bahnen über die Cockpitscheibe.

IMC – Low clouds – Foto: Fecker

„Frank, fühlst du dich noch wohl?“ frage ich meinen Piloten und genau in dem Moment kurvt er nach links ein. Als hätte er nur drauf gewartet. Wir reden kaum, er kehrt um nach Münster-Osnabrück und im selben Moment, in dem er die Kurve einleitet, sind wir blind. Wir sind in einer Wolke. Die Sicht nach außen ist weg. Keine Referenz, kein Horizont, kein ground in sight. Ich sehe nur den Wendezeiger, einen künstlichen Horizont hat unsere Maschine nicht. Der Wendezeiger steht auf ca. 50° Querneigung, immerhin steht die Libelle in der Mitte, d.h. Frank fliegt eine saubere Kurve. Trotzdem: Genau in diesem Moment bekomme ich Todesangst. Schlagartig schießt es mir heiß und kalt in die Adern, ich war der Meinung, dass es das war. Schluss. Aus. Ende. So fühlt man sich also, wenn man abstürzt?

Warum ich so denke? Man verliert mit dem Sichtverlust sofort, unmittelbar das Gefühl für die Lage im Raum. Das klingt unglaublich, es ist aber wahr. Ich hatte es selbst schon erlebt: Mit 18 hat es mich im Segelflieger mal in eine Wolke gezogen, ich hatte zu lange in der Thermik gekurvt. Zack, Sicht weg. Nach dem Verlust der Sicht leitete ich die Kurve aus und zog die Klappen, drückte nach, um aus der Wolke zu kommen. Ich war der festen Meinung, dass die Flächen meiner KA-8 horizontal ausgerichtet seien und ich im leichten Bahnneigungsflug aus der Wolke flöge, ich war nur etwas zu schnell. Als ich wieder Sicht hatte, bemerkte ich, dass ich im Messerflug aus der Wolke fiel. Ich zog sofort leicht am Stick und beendete das Manöver, der Schrecken saß mir noch lange in den Gliedern. Wer das nicht glaubt, der möge bei der nächsten Bahnfahrt die Augen schließen, kurz bevor der Zug im nächsten Bahnhof anhält. Wenn man dann auch keine Audio-Referenz hat, so hat man schnell das Gefühl, dass der Zug immer noch nicht steht, wenn nur die Bremsung weich genug ist.

Zurück in unsere Wolke in Münster: Ich war genau deswegen der Meinung, dass es hier endet, denn es dauerte ewig, bis wir aus der Wolke heraus waren. Man hört das von Erfahrungen im Grenzbereich, ich kenne das persönlich vom Bungee-Jumping: Die Zeit dehnt sich, man empfindet sie als unendlich lang, dabei geht es ganz schnell.

Frank befand sich in der Ausbildung zur IFR-Berechtigung und steuerte besonnen unseren Flieger mit der oben beschriebenen Querneigung, bis wir endlich wieder Boden- und Flugsicht hatten. Aber der erste Sichtkontakt war nicht erfreulich. Auf unserer 11 Uhr Position befand sich eine Windkraftanlage (WKA) und deren Spitzen waren geschätzt nur knapp 50 Meter unter uns links voraus. Ich rüttelte an Franks Schulter und zeigte auf die Windmühle. Frank korrigierte sofort nach rechts und auch dort tippte ich ihm wieder auf die Schulter und rief erneut „WKA!!!“. Die Spitzen waren auf unserer Flughöhe.

Auf der ICAO-Karte heute sieht man noch WKAs westlich von NOVEMBER, die Höhe ist mit knapp 900 ft AMSL angegeben, EDDG hat als Platzhöhe knapp 160 ft. „Du meine Güte – wir leben noch“ dachte ich und informierte die mittlerweile schon nervöse Kollegin auf dem Tower, dass wir umkehren und in EDDG landen wollen. Der Weg dahin dauert nicht lang, wir bekamen unverzüglich die Landefreigabe, setzen uns auf den rettenden Boden und rollten zur Abstellposition, nur 200 Meter vom Turm entfernt. Um uns herum nur noch grau in grau, ein Nimbostratus vom Feinsten. Eine abfliegende King Air verschwand kurz nach dem Rotieren in der Suppe.

„Boah, wie konnte uns das passieren“ dachte ich mir, stieg aus und rauchte erstmal zwei Zigaretten nacheinander. Meine Hände zitterten. Ich stellte die Frage nochmal Frank und bekam die Antwort: Wir waren dem Ziel sehr nahe, Target Fixation, und Frank wäre allein schon lange umgekehrt. Durch meine Navigation und den Funk konnte er sich auf das Fliegen konzentrieren und so verschoben wir unseren Grenzbereich. Mit dem Arsch über die Kreissäge – das trifft es. Viel Puffer hatten wir nicht mehr, im Towergebäude haben wir uns noch mit der Kollegin debrieft, die war auch nicht eben relaxed aus der Geschichte in ihre Pause gegangen.

What learns us that? Das fragte ironisch immer mein Hörsaal-Leiter Ulrich Kausch auf dem Lehrgang für militärische Fluglotsen in Kaufbeuren 1993, wenn wir wieder mal eine ungewöhnliche Situation diskutierten.

Für mich persönlich habe ich gelernt:

  • Frühzeitig in die Selbst-Reflexion gehen, um die Situations-Aufmerksamkeit zu steigern. Überprüfe Dein Verhalten, als würde es ein Außenstehender tun: Hast Du alles unter Kontrolle? Gibt es Probleme oder mehrere, kleine Probleme, die sich kumulieren können?
  • Wenn Du im Team bist: Rede über Deine Gedanken. Wenn sich das Bauchgefühl meldet, dass etwas nicht stimmt: Check it! Talk about it! Zur Not rede mit Dir selbst!
    Besonders wichtig in Teams, in denen es Hierarchien gibt – das ist ein Grundgedanke des Team/Crew Ressource Managements (TRM/CRM)
  • Durchschlage rechtzeitig Fehlerketten. „Drifting into failure“ lautet das Stichwort. Irgendwann ist der Sicherheitspuffer aufgebraucht und dann bist Du in Gottes Hand.

Der Flug ist lange her, aber ich bekomme heute noch Puls, wenn ich davon erzähle. Vielleicht hilft es beim Nachdenken und bei der Verhinderung irgendeines Unfalls.

Frank Depping