Luftpost 374: Cabin Fever

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Schneeschuhe in Alaska – Foto: Fecker

Manche Ideen kommen ja sachgebiets- und sprachübergreifend. Als ich in einem amerikanischen Portal über die Ansteckungsgefahren der vermehrten Reisetätigkeit in dieser coronaren Zeit las, war von „Cabin Fever“ die Rede. Wer hat schon Lust, zehn Stunden in einer Flugzeugkabine unter der Maske zu verbringen! Gemeint sind gleichzeitig auch die Ausgangsbeschränkungen, die vielen Menschen aufs Gemüt schlagen. Man will raus aus dem Haus, unter Menschen, ohne sich gleich das Virus einzufangen. Das unstillbare Verlangen nach Normalität und dem gewohnten Leben wird täglich größer. Die wörtliche Übersetzung in „Kabinenfieber“ hat in unserer Kultur keinen Wiedererkennungswert. Bei uns redet man bestenfalls von Lagerkoller oder Hüttenfieber. Beides kann grausame Folgen haben. Dazu fällt mir eine Passage aus einem meiner frühen Bücher ein:

Otis M. Boswell hatte Hüttenfieber. Das ist keine Krankheit, die der Arzt heilen kann. Hüttenfieber ist ein Zustand der Verzweiflung. Boswell war nach dem Krieg aus der U.S. Air Force ausgeschieden und nach Alaska gezogen. Er wollte erst ein Jahr allein in der Wildnis verbringen, bevor er seine Verlobte aus Kansas City nachholte. Doch welch harte und zermürbende Erfahrung musste der 30-jährige Ex-Soldat machen!

Der Bau seiner Blockhütte hielt ihn länger auf als erwartet. Ein hungriger Bär riss die Nordwand des halbfertigen Hauses ein und tat sich an Boswells Vorräten gütlich. Noch während Otis mit der Reparatur seines Hauses beschäftigt war, brach der Winter übers Land. Die Schneelast brachte sein halbfertiges Dach zum Einsturz. Zwar behob er auch diesen Schaden, aber das Dach ließ sich nie mehr ganz abdichten. Beim Fischen verlor er einen Handschuh. Sein Ofen, eine ausgediente Öltonne, brannte durch, seitdem lebte er den ganzen Winter in der Angst, ein Feuer könnte ihm das geflickte Dach über dem Kopf vernichten. Sein Gewehr war durch den herabfallenden Firstbalken unbrauchbar geworden. Mit selbstgebastelten Fallen fristete er sein einsames Leben. Aber er wollte durchhalten. Auch dann noch, als ein Vielfraß in seiner Abwesenheit bei ihm einbrach, um ihn seiner verbliebenen Vorräte ein zweites Mal zu berauben.

Foto: Andreas Fecker

Inzwischen wurden die Tage wieder länger, aber der Himmel blieb verhangen, es schneite noch immer. Er sah sich enttäuscht in der Hoffnung, im Frühjahr würden seine Sorgen und Nöte von allein verschwinden. Nun war es März, der Schnee lag noch meterhoch vor dem Haus, erlaubte ihm die Tür nur einen Spalt weit aufzustemmen, sodass er sich gerade noch hinauszwängen konnte. Er fand im Neuschnee seine Fallen nicht mehr, und wenn, waren sie meist leer. Sein Kaffee war ausgegangen, der Ofen zog plötzlich nicht mehr, in der unaufgeräumten Hütte stand der Qualm – kurz, er wollte raus. Raus aus dieser verdammten Hütte, raus aus diesem verdammten Land, raus aus diesem verdammten Leben. Otis Maynard Boswell spielte mit Selbstmordgedanken. …

Die Parallelen zur derzeit wütenden Pandemie sind allgegenwärtig. Kaum hat man Hoffnung auf Lockerung geschöpft, kommt die nächste Welle, der nächste Lockdown, die nächste Notbremse, die das Leben noch weiter einschränkt. Der Wunsch auszubrechen, zu reisen wird größer, auch wenn Vorsicht und Vernunft dagegenstehen. Gegen die Maßnahmen zu protestieren und sich aufs Grundgesetz zu berufen, beendet nicht die Ursache. Man müsste eigentlich gegen das Virus protestieren! Aber dem Virus ist das Grundgesetz leider egal. Das Virus sagt DANKE für jede Demo! Da hilft weder Leugnen, noch den Kopf in den Sand zu stecken, wie es der Legende nach die Straußenvögel tun. Die leben übrigens auf der südlichen Halbkugel. Mit dem Flugzeug braucht man mindestens zehn Stunden bis dorthin. In einer engen Kabine. Unter der Maske. Cabin Fever inklusive. Und im Straußenland wartet auch schon die südafrikanische Mutante!

Andreas Fecker

Eine Antwort zu “Luftpost 374: Cabin Fever”

  1. Andreas Fecker sagt:

    Auf die Nachfrage eines Lesers, ob Otis Boswell überlebte, will ich hier kurz antworten:
    Boswell spielt in meiner Geschichte nur eine Nebenrolle. Die Episode diente dazu, ihn und die klimatische Situation zu beleuchten, bevor er mit Fritz Ruppert zusammentraf. Der wiederum half meiner Hauptperson, dem Japaner Ichiro Takahashi bei seiner Flucht aus Sibirien nach Alaska. Meine Japan-Affinität hat sich hier mit meiner Liebe zu Alaska gepaart.
    Ich möchte aber jetzt nicht die ganze Geschichte des Buches vorwegnehmen.