Luftpost 284: Das andere Amerika

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Andreas Fecker – Foto: Bildarchiv Fecker

Fast täglich erleben wir eine USA, die uns schaudern lässt. Aber es gibt auch ein Amerika mit altruistischen Menschen, Helden, uneigennützig und bescheiden, die ohne zu zögern ihr Leben für andere hergeben. Hier ein Beispiel in der ganzen Dramatik, wie es sich abspielte:

Air Florida Flug QH 90 sollte am 13. Januar 1982 um 14:15 Uhr in Washington National Airport zu einem Flug nach Tampa (FL) starten. Doch nach Durchzug eines Schneegebietes wurde der Flughafen von 13:38 Uhr bis 14:30 Uhr wegen Schneeräumens geschlossen. Um 14:20 Uhr ließ der Captain die linke Seite der Boeing 737 enteisen, damit er gleich nach Öffnung des Flughafens starten konnte. Er ließ jedoch die Enteisung einstellen, als bekannt wurde, dass sich die Öffnung des Airports noch eine halbe Stunde verzögern würde. Um 14:45 Uhr ließ er die Enteisung fortsetzen. Um 15:23 Uhr dockte die Maschine ab. Wegen des herabgefallenen Schnees, Eis und Glykol am Boden konnte der Truck das Flugzeug nicht vom Gate wegschieben. Die Crew versuchte es daraufhin mit dem Umkehrschub, was viel zusätzlichen feuchten Schnee auf das Flugzeug aufwirbelte. Dies könnte zum späteren Unfallgeschehen beigetragen haben. Schließlich wurde der Truck wieder angehängt und die Boeing freigeschoben. Um 15:38 Uhr rollte Air Florida zum Start. Vor der Startposition an der Piste standen mehrere Flugzeuge, die warten mussten, bis sie an die Reihe kamen. Air Florida stellte sich bewusst in den Abgasstrahl, um die heiße Luft zu nutzen. Ironischerweise könnte auch das dazu beigetragen haben, dass sich an der Flügelvorderkante und an den Pitot-Einlässen wieder Eis bildete. Um 15:58 Uhr erhielt QH 90 die Startfreigabe. Da eine Maschine von Eastern Airlines in nur 2,5 Meilen im Endanflug war, ermahnte der Tower QH 90, sofort zu starten. Die Crew quittierte das intern mit: „Das ist nicht in Ordnung!“

Genau viermal äußerte der Kopilot während des Starts Bedenken, dass mit dem Flugzeug etwas nicht stimme. Es beschleunigte langsamer und brauchte 2000 Fuß mehr Startstrecke als sonst. Schließlich hob die Boeing ab, nahm aber im Flug keine Fahrt auf. Stall-Warnung und Stick-Shaker ratterten bis zum Einschlag. 1400 m nach dem Pistenende prallte das Flugzeug auf eine Brücke über dem vereisten Potomac River auf und zerbrach. Sechs voll besetzte Autos wurden getroffen, vier Menschen wurden getötet, vier weitere verletzt. Von den 79 Menschen an Bord überlebten nur fünf unter dramatischen Umständen, weil sie sich an einem Wrackteil festklammern konnten. Sie waren 61 m vom Ufer entfernt.

Wegen der Straßenzustände und des Staus konnten die meisten Rettungskräfte die Absturzstelle nicht erreichen. Eine Feuerwehr führte ein Schlauchboot mit, das aber zwischen den Eisschollen nicht fortbewegt werden konnte. Ein Arbeiter sprang ins Wasser, konnte die Überlebenden aber nicht schwimmend erreichen. Mitarbeiter des nahen Pentagons halfen ihm an Land. Mit einem improvisierten Seil versuchte er es noch einmal, wurde aber wieder an Land gezogen. Um 16:22 Uhr erreichte ein Polizeihubschrauber, Eagle One, die Unfallstelle. Ein Sanitäter warf ein Seil hinab. Der Passagier Arland Williams konnte es ergreifen, er gab es jedoch an die Flugbegleiterin Kelly Dunkan weiter, die zuvor ihre Schwimmweste an eine Passagierin gegeben hatte. Der Hubschrauber setzte Kelly Duncan am Ufer ab und flog zurück. Beim dritten Anflug ließ der Sanitäter gleich zwei Leinen hinunter. Wieder gab Williams eine Leine weiter, diesmal an den Geschäftsmann Joe Stiley, die zweite Leine wurde von Stileys Sekretärin Nikki Felch gefangen. Stiley hielt außerdem mit seinem freien Arm die Passagierin Priscilla Tirado fest. Der Helikopter versuchte, diese drei Überlebenden im Langsam-Flug zwischen den im Wasser treibenden Eisschollen hindurch zum Ufer zu schleppen. Felch und Tirado verloren jedoch den Halt, und nur Stiley gelangte ans Ufer.

Eisschollen auf dem Potomac River in Washington D.C. – Foto: Public Domain

Daraufhin zog ein Augenzeuge, der Verwaltungsangestellte Michael Lenny Skutnik, Mantel und Schuhe aus und sprang ins Wasser, um Priscilla Tirado ans Ufer zu bringen. Zur gleichen Zeit flog Eagle One zu der in ihrer Schwimmweste treibenden Nikki Felch zurück. Der Sanitäter stellte sich dabei auf die Kufen des Helikopters, griff nach der Kleidung der Frau und zog sie hoch. Auch Nikki Felch konnte ans Ufer gebracht werden. Der Helikopter flog zurück zum Wrack, um den sechsten Überlebenden zu bergen. Doch das Wrack hatte sich mittlerweile leicht gedreht und den schwerverletzten Williams unter Wasser gedrückt. Der Potomac River hatte an diesem Tag 1 Grad Celsius. Die Brücke trägt heute den Namen Arland Williams Memorial Bridge.

Die Ursachen für diese Katastrophe, die übliche Verkettung von Umständen und kleinen Fehlern der Beteiligten will ich hier gar nicht auflisten. Die stehen dann in meinem nächsten Buch. Aber die menschliche Größe, die Selbstaufopferung sind das genaue Gegenteil von dem, was wir aus den USA jeden Tag hören und erleben. Das ist es, was Amerika groß gemacht hat, und woran ich mit dieser Luftpost erinnern will, damit wir es im Trommelfeuer der Tweets nicht vergessen.

Andreas Fecker