Luftpost 220: Ben Sliney

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Andreas Fecker Foto: Bildarchiv Fecker

Übermorgen jährt sich wieder einmal der 11. September, der Tag, der die Welt verändert hat. Gelegenheit, einen Menschen zu würdigen, der an diesem Tag eine mutige Entscheidung traf.
Wer seinen Job wechselt und am ersten Arbeitstag auf seine zukünftigen Mitarbeiter und Vorgesetzten trifft, wird erst einmal versuchen, einen guten Ersten Eindruck zu machen. Er wird es langsam angehen, sich in einer ersten Dienstbesprechung vorstellen, vielleicht Kaffee und Kuchen spendieren. Er wird einen Rundgang zu den verschiedenen Arbeitsplätzen machen, Mitarbeiter zu Einzelgesprächen in sein neues Büro einladen, ein Bild von Frau und Kindern auf seinem Schreibtisch aufstellen, ein paar alte Erinnerungen an die Wände hängen. Und er wird sich auf den Feierabend freuen, wo er die Eindrücke des ersten Tages als neuer Chef des FAA AIR TRAFFIC CONTROL SYSTEM COMMAND CENTER in Herndon, Virginia verarbeiten kann, immerhin das größte Lagezentrum seiner Art in der Welt. In diesem 6000 Quadratmeter großen Kommandozentrum wird der Luftraum über den USA und den angrenzenden Ozeanen koordiniert, man reagiert auf technische Ausfälle, Verspätungen, Staus an Kreuzungspunkten von Luftstraßen oder Flughäfen, Schwierigkeiten in Kontrollzentralen, Großwetterlagen, besondere Ereignisse, die Eingriffe in die Routenführung erfordern.

In dieses eher gelassen feierliche Ritual platzt am 11. September 2001 die Nachricht über eine angebliche Entführung von American Airlines Flight 11. Kein Grund zur Aufregung, auch wenn so etwas schon lange nicht mehr da war. Als dann die United 175 keinen Funkkontakt mehr hat, ist die Verwirrung groß. Ein Anruf meldet den ersten Einschlag im World Trade Center. Zwei Entführungen so kurz nacheinander? Sliney nimmt Kontakt mit der Luftverteidigung auf. Die bereiten sich gerade auf eine Übung vor. Dazwischen mischen sich Falschinformationen und Gerüchte von Cleveland, New York und Boston Center. Der zweite Einschlag im WTC wird gemeldet.

Sliney blickte auf eine 25-jährige Karriere als Fluglotse, Wachleiter und Luftraummanager zurück. Er spürt, dass sich hier ein Chaos anbahnt, welches immer schlimmer würde. Deshalb verbietet er alle weiteren Starts an den Flughäfen der Ostküste. Plötzlich wird AA 11 wieder gesichtet, auf dem Weg nach Washington DC. Die Air Force hat nichts in der Nähe. Der Einschlag im Pentagon wird gemeldet. Präsident und Vizepräsident sind nicht erreichbar. Passagiere an Bord von United 93 melden über Mobiltelefone eine Entführung. Die Kursänderung von UA 93 in Richtung Hauptstadt wird beobachtet. Im Lagezentrum geht es drunter und drüber wie bei einem Börsencrash an der Wall Street. Just stop everything! Just stop it!“ befiehlt Sliney. „Räumt den gesamten Luftraum über den USA auf! Keine Starts mehr, alle Flugzeuge über den USA landen sofort und ohne Widerrede am nächstgelegenen Flughafen. Flüge über dem Atlantik kehren entweder um oder landen in Island, Grönland oder Kanada. Das gilt von Florida bis Hawaii.“ Es ist 09:45 Uhr in Virginia. Auf die Einwände, dass derzeit 4000 Flugzeuge in der Luft seien, dass dies noch nie da war, dass es dafür keine Vorschrift gäbe und dass diese Aktion Milliarden kosten würde, hat er nur eine Antwort: „I don’t give a shit. Wir sind mit irgendjemand im Krieg. Und bis wir herausgefunden haben, was hier vor sich geht, fliegt bei uns nichts mehr.“ Gegen 13 Uhr landet das letzte zivile Flugzeug.

Die Flughäfen von Gander und Halifax nahmen einen Großteil des Transatlantikverkehrs auf – Foto: Gander Airport

Die kanadische Flugsicherung nahm den gesamten Luftverkehr in die USA auf, Polflüge aus Asien und Europa wurden kurzerhand zur Landung auf kanadischen Flughäfen wie Whitehorse, Calgary, Halifax oder Gander genötigt, die bald aus allen Nähten platzten. Plötzlich, von einer Minute auf die andere musste eines der komplexesten Luftverkehrssysteme der Welt mit einer Situation fertig werden, für die es gar nie geschaffen wurde. Und all dies verlief ohne einen Unfall! Ben Sliney war der richtige Mann zur richtigen Zeit am richtigen Ort.

Seit jenem Tag häufen sich fanatische Terroranschläge, Krisen und Kriege, fremdgesteuerte Unruhen, Aufstände und politische Wirren. 65 Millionen Menschen sind weltweit auf der Flucht. Naturkatastrophen kommen hinzu. Der Globus ist aus dem Gleichgewicht geraten. Wünschen wir uns Menschen mit Weitblick in den politischen, militärischen und diplomatischen Schaltzentralen, deren Bauchgefühl mit Erfahrung und Vernunft, Urteilsvermögen, Besonnenheit, Mut und Tatkraft im Einklang steht.

Andreas Fecker