Luftpost 298: Stille

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Bildarchiv Fecker

Dies ist das Kontrastprogramm zur Luftpost von letzter Woche. Sollten wir nicht über Ruhe und Stille reden, bevor wir über Lärm reden? Sollten wir nicht einmal erleben, was Stille überhaupt bedeutet? Meine Familie und ich haben fast 40 Jahre zwischen sechs und acht Kilometer vom jeweiligen Flughafen gewohnt, an dem ich gearbeitet habe. Und die gehörten zu den verkehrsreichsten Airports Europas. Ich weiß also, wovon ich rede. Doch nach meinem Berufsleben hat sich unser Schwerpunkt zwangsläufig verändert. Endlich kann ich mich wieder meinem Sport widmen, der Kreativität, der Musik.

Und da erinnere ich mich der Stille, die wir bisweilen erleben durften. Stille … sie wird besser bezeichnet als Lautlosigkeit. Es ist die Abwesenheit einer jeglichen Bewegung, die ein Geräusch verursachen könnte. Vor meinem hektischen Berufleben erfüllten meine junge Frau und ich uns den Traum unseres Lebens: Wir fuhren zwei Wochen im Winter nach Grönland. Wir hatten gerade geheiratet und während andere Paare von Florida, Hawaii oder der italienischen Riviera träumten, wollten wir die Schönheit und Abgeschiedenheit des Nordens erleben, die Kraft des Eises und die Stille der Kälte.

Meine Frau studierte, ich war ein junger Soldat, beide kratzten wir jeden Pfennig zusammen und kauften uns Flugtickets von Kopenhagen nach Kangerlussuaq mit anschließendem Hubschrauberflug nach Sisimiut. Von dort brachte uns ein eisgängiges Schiff nach Itivdleq, einem kleinen Küstenort ohne Strom. Das Thermometer stand auf Minus 35° Celsius, das niedrigste, was unsere daunengefütterte Polarkleidung und die Angora-Unterwäsche aushalten sollte.

Stille in Grönland – Foto: Michael Haferkamp (Wikimedia Commons)

Da stehst Du nun in der Einsamkeit. Eine feierliche Stille bemächtigt sich deines ganzen Wesens, hüllt dich in Watte. Du kannst diese Stille sogar sehen, wenn du deinen Blick über die nackte, eisige Landschaft streichen lässt, wenn du das winterdunkle Blau-Weiß des Himmels, das weiche Blau-Weiß der schneebedeckten Berge, das zarte Blau-Weiß des Eises auf dich wirken lässt. Da ist kein störender Farbton dazwischen, kein Schwarz, kein Rot, kein Grün, nicht einmal Weiß; nur stilles, zartes Blau-Weiß ohne harte Konturen, eiskalt und freundlich zugleich, weich, samtig, großartig, wie in einem Traum.

Sommernacht am Yukon – Foto: Bildarchiv Fecker

Mittlerweile hat uns das Leben mehrfach um die Welt geführt, aber nie mehr haben wir eine solche totale, menschenferne Geräuschlosigkeit erfahren, ein Vakuum wie auf dieser Winterreise nach Grönland. Ich erinnere mich auch gerne an eine laue Zeltnacht am Yukon, dem großen Strom im Norden von Kanada. 150 Meter breit, eine gewaltige, schnell fließende Wassermasse. Trotzdem ist der Fluss so ruhig, zieht das Wasser so geräuschlos und friedvoll, dass wir uns nur zu flüstern getrauen. Wir vermeiden jedes Papierrascheln. Ein paar Vögel zwitschern, es ist fast Mitternacht und noch hell. Lautlos treiben Baumstämme vorbei, Fische springen, das Feuer knistert, ein Topf voller Nudeln mit Bouillon köchelt still vor sich hin.

Die Baumwipfel der dunklen Wälder zeichnen sich scharf gegen den blassblauen Himmel ab, der von hauchdünnen Rosastreifen unterbrochen wird. Die spiegelglatte Oberfläche des Flusses reflektiert das Licht in purpurvioletten Falschfarben. Kostbare Stunden. Ein kleiner Hermit flattert heran, setzt sich ans Ufer, beäugt uns neugierig, die wir am Feuer sitzen und segelt wieder davon, zentimetertief über dem Wasser.

Stille Sommernächte am Yukon – Foto: Fecker

Aber ist es nicht eine Ironie, dass es ausgerechnet das Flugzeug war, das uns diese unvergleichlichen Erlebnisse der Stille gebracht hat?

Das Ende der Stille

Bestimmte Ereignisse in der Natur sind vom Menschen unbeeinflussbar und laufen teilweise unter ohrenbetäubendem Getöse ab (Meeresbrandung, Wasserfälle, Stürme, Gewitter, Starkregen, Hagel, Tiergebrüll). Darüber hinaus muss sich unser Stillebegriff in Mitteleuropa an einem erträglichen Maß der Industrialisierung und des gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Zusammenlebens orientieren. Denn das Ende des mittelalterlichen Dorflebens mit seiner heute als idyllischer Ruhe verklärten Stille hörte spätestens mit der Erfindung der Dampfmaschine, der Hammerschmiede und anderer Industrieanlagen auf. Diese erleichterten zwar das tägliche Leben, waren aber allesamt lauter als die Fabriken und Transportmittel der heutigen Zeit zusammen. Und je mehr Menschen heute in einem Ballungsraum zusammenleben, umso höher ist die Verlärmung der Umwelt und umso weniger wird man in der Lage sein, auf einer Wiese zum Beispiel das Summen der Insekten zu hören.

Das Sonntagsfahrverbot für Lastwagen am Rande einer Millionenstadt muss bereits als Vergleichsgrundlage für einen industrietoleranten Stillefaktor Null gelten, weil der absolute Nullwert in unseren Breiten sowieso nicht mehr zu erreichen ist, und weil man sich an das allgegenwärtige Hintergrundrauschen der Industriegesellschaft bereits gewöhnt hat. Die regelmäßig vorbeifahrende S-Bahn wird man kaum noch registrieren. Aber selbst in die einst unberührte Arktis zog der Lärm ein, nicht etwa in Form von vereinzelten Buschfliegern, sondern mit den allerorts präsenten Schneemobilen, mit denen die Menschen über die verschneite Tundra flitzen.

Andreas Fecker