Da stand ich also mit der Hälfte meiner Kunden am Gruppenschalter des Münchener Flughafens und checkte das Gepäck für den Flug nach Las Vegas über Frankfurt und San Francisco ein. Die Maschine startete pünktlich, die Boardingpässe für den Anschlussflug nach Amerika hatten wir bereits, das Gepäck war durchgecheckt. Im Anflug auf Frankfurt erschrak ich jedoch über eine Durchsage des Captain: „Wegen dichten Nebels können wir nicht in Frankfurt landen. Wir bringen Sie jetzt nach Stuttgart. Von dort wird Lufthansa Sie mit dem Bus nach Frankfurt bringen.“ Sofort nach der Landung rief ich in der Reiseagentur an und bat darum, den in Frankfurt wartenden zweiten Teil Gruppe zu kontaktieren. Sie sollten ihren Flug in die USA auf jeden Fall nehmen und in Las Vegas im Hotel auf uns warten. Denn dass wir unsere Verbindung nicht mehr erreichen würden, war klar. In Frankfurt zog ich alle Register und versuchte, irgendeinen anderen Flug nach Las Vegas zu kriegen, über Paris, über London, Madrid, Lissabon, Kopenhagen, Amsterdam, über Atlanta, New York, Mexico, Kanada. Es war nichts zu machen. Es war Ferienzeit. Und doch, plötzlich gab es noch ein paar Plätze in einer Maschine nach Boston. Von dort würden wir irgendwie weiterkommen, da war ich mir sicher. Das Gepäck, das wir in Stuttgart wieder erhalten hatten, wird nach Boston eingecheckt. Die Boardingpässe werden ausgestellt. Da signalisierte der Computer STOPP. Der Flug war geschlossen, die Standby-Passagiere am Gate wurden bereits geladen, die Maschine war voll. Nur unser Gepäck … war unterwegs zum Flugzeug. Unsere Zelte waren unterwegs nach Boston.
Wir würden also unsere erste Nacht nicht in Las Vegas, sondern im Hotel am Flughafen Frankfurt verbringen. Jetzt musste ich dafür sorgen, dass das unbegleitete Gepäck von Boston nach Las Vegas weitergeleitet wurde (Heute ginge das gar nicht mehr). Am Abend sammelte ich alle Pässe und Tickets ein, damit ich am folgenden Morgen bei Schalteröffnung um 4 Uhr unsere Flüge nach Las Vegas sicherstellen konnte. Ich lud die Kunden auf Kosten der Agentur zum Essen und Trinken ein. Am folgenden Morgen um 4 Uhr stand ich am Schalter. Um 11 Uhr ging unser Flug. Ich konnte endlich etwas entspannen. Erst in San Francisco holte uns das Pech wieder ein. Der Anschlussflug nach Las Vegas hatte vier Stunden Verspätung. Wir würden erst nach Mitternacht ankommen. Ich telefonierte mit dem Autoverleih, dass wir uns verspäten würden. Wir hatten dort zwei große Vans reserviert. Als wir in Las Vegas ankamen, war das Gepäck aus Boston tatsächlich da. Doch statt der schriftlich zugesicherten Vans erhielten wir nur zwei Kombis. Ich solle am nächsten Tag mit dem Chef der Autovermietung reden. Eigentlich wollten wir am frühen Morgen losfahren, wir hatten 400 km vor uns. Aber ich willigte ein.
Wir fuhren also mit den beiden Kombis zum Hotel. Es war mittlerweile 2 Uhr morgens. Während des Ausladens schlug der zweite Fahrer die Tür zu. Der Schlüssel steckte im Zündschloss. Die Autovermietung am Flughafen war inzwischen geschlossen. Einen Ersatzschlüssel konnte ich erst am nächsten Morgen abholen. Da informierte mich einer der Kunden, er habe den Schlüssel für das Vorhängeschloss an seinem Seesack verloren. Also lud ich den Sack in mein Auto und machte mich auf die Suche nach einer Feuerwache, die mir sicherlich mit einem Bolzenschneider helfen würde. Um drei Uhr fiel ich ohnmächtig ins Bett. Für den Morgen hatte ich eine Besprechung mit der gesamten 16-köpfigen Gruppe angesetzt. Schließlich musste ich das Programm ändern. Laut Reiseplan sollten wir am zweiten Tag vor 12 Uhr mittags am Hualapai Canyon sein, weil um diese Zeit die Packpferde in den Canyon aufbrachen. Doch Hualapai war 400 km entfernt. Statt am Vortag die Hälfte der Strecke zurückzulegen und unterwegs am Lake Mead zu übernachten, würden wir nun allerlei Schwierigkeiten meistern müssen.
Endlich, gegen Mittag waren wir abfahrbereit. Die Packpferde konnten wir abschreiben. Wir würden Zelte und Verpflegung 15 km weit in den Canyon tragen müssen. Es war später Abend, als wir am Rand des Canyons ankamen. Eilig packten wir das nötigste für drei Tage zusammen: Zelte, Schlafsäcke, Küche. Ich setzte mich an die Spitze der Gruppe und achtete darauf, dass auch der langsamste der 16 Kunden mitkam. Zwei bergerfahrene Kraxler aus Berchtesgaden fragten, ob der Trail immer geradeaus ginge, oder ob man sich verlaufen könne. Sie würden nämlich gerne etwas schneller gehen. Ich hatte keine Bedenken, da der Trail immer an einem kleinen Flüsschen entlangging. Doch kaum waren sie außer Sichtweite, da fiel mir ein, dass sie ungefähr fünf Kilometer weiter den Bach über eine Holzbrücke überqueren müssen. Da das Tageslicht im Canyon schneller verschwindet, verabschiedete ich mich von der Gruppe und rannte den beiden hinterher, um sie vor der Brücke einzuholen. Es gelang mir auch, aber die Brücke selbst war vom Hochwasser weggerissen worden. Nur ein Drahtseil hing noch über den Fluss. Während ich den beiden half, mit Hilfe des Seils den reißenden Bach zu überqueren, senkte sich die Nacht über uns. Es war plötzlich stockdunkel. Auf der anderen Seite hieß ich die beiden zu warten. Ich hangelte mich wieder über das Seil und hoffte darauf, dass die Gruppe noch nicht vorbeigestürmt war. Aber alles Rufen war zwecklos, der Bach war viel zu laut. Nach einer Viertelstunde war ich mir sicher, dass die ganze Mannschaft geradeaus weitergegangen war. Der Weg führte ins Indianerdorf. Ich überquerte erneut den Fluss und führte die beiden Kraxler zum Zeltplatz. Die Batterien meiner Taschenlampe waren leer. Alle Seesäcke, die unbegleitet über Boston verschickt wurden, waren vom Zoll geöffnet, die Lampen eingeschaltet und womöglich absichtlich in eingeschaltetem Zustand wieder verpackt worden. So hatte niemand von uns Licht.
Langsam forderte der tagelange Dauerstress seinen Tribut. Man kennt das: Nur mal kurz hinlegen … da übermannte mich der Schlaf. Erst bei Sonnenaufgang wachte ich auf.
Die Realität traf mich wie ein Blitz. Ich, Reiseleiter, Trekkingführer, hatte meine Gruppe verloren. Mit neuer Energie machte ich mich auf die Suche. Vereinzelte Mitglieder konnte ich einsammeln und bat sie, sich bis 10 Uhr auf dem Zeltplatz einzufinden. Dort würde ich dann Rede und Antwort stehen und den weiteren Plan für eine geordnete Fortführung der Reise ausbreiten. Zur vereinbarten Zeit waren wir alle zusammen. Eine Sprecherin fasste die Stimmung der Kunden zusammen. „Das war ja eine Katastrophe. Du hast die Gruppe verloren. Wir waren uns selbst überlassen. Es hätte ja alles Mögliche passieren können.“ Wo sie recht hatte, hatte sie recht. Ich erklärte, wo und warum wir uns in der Dämmerung verloren hatten. „Ich hätte meinen Rucksack auf den Weg legen sollen, damit niemand an der Stelle vorbeigeht. Stattdessen habe ich ausprobiert, ob und wie wir den Fluss ohne Brücke überqueren können. Das geschah zehn Meter abseits des Weges, von Büschen verdeckt, alle Geräusche vom reißenden Bach überlagert. Das hätte mir nicht passieren dürfen, das war meine Schuld. Ich bitte um Verzeihung und um neues Vertrauen. Aber seht doch mal was hier passiert ist! Ihr kommt aus einem organisierten Land, aus Städten mit Straßenbeleuchtung und asphaltierten Gehwegen. Ihr findet Euch wieder in einem Canyon in Arizona, unvermittelt auf euch alleine gestellt, in stockdunkler Nacht. Ich habe schon verschiedentlich Geschichten gehört. Einer hat in einer Indianerhütte geschlafen, zwei andere haben ein ihnen unbekanntes Zelt bei Dunkelheit erstmals aufgeschlagen, einer hat auf einer Veranda zwischen Hunden geschlafen, ein anderer auf dem nackten Boden. Jeder hat etwas anderes erlebt. Und vor allem, jeder hat sich besonnen verhalten. Und da bin ich ausgesprochen stolz auf euch. Ihr habt Abenteuer gebucht und habt es schneller gefunden als erhofft. Niemand von euch wird diese Nacht je vergessen.“
Zustimmendes Schweigen. Dann fügte die Sprecherin hinzu: „Also so einfach sollst Du uns ja nicht davonkommen. Das darf einfach nicht passieren.“ Das war der Zeitpunkt, wo ich darauf hinweisen musste, dass ich seit Tagen nicht geschlafen und nur darauf hingearbeitet hatte, dass die Gruppe zusammengeführt wird, dass wir einen ganzen Reisetag hereinholen mussten, mit allen Schwierigkeiten, die das mit sich brachte. Jetzt erst war die Anreise nämlich vorbei und wir konnten uns auf eine der vielseitigsten Trekkingreisen freuen, die man in Arizona unternehmen kann, Bergwandern, Rafting, Wüsten- und Ranch-Erlebnisse eingeschlossen. Und von da an klappte alles wie am Schnürchen.
Andreas Fecker