Luftpost 413: Dimensionen

Werbung
Andreas Fecker – Foto: Fecker

Das Leben ist ja niemals eindimensional. Zu viele Eigenschaften, Talente, Zufälle, Interessen und Umstände spielen eine Rolle bei unseren Erlebnissen und Erfahrungen. So führte mich mein Beruf vor gut 20 Jahren nach Rom als Gast einer italienischen Luftfahrtbehörde. Organisator des Besuchs war Oberst Stefano Gensini. Zum offiziellen „Betreuungsprogramm“ gehörte stets ein kultureller Teil. Zufällig war der Gastgeber Mitglied im Kirchenchor des Vatikans, so war eine intensive Besichtigung des Bauwerks von der Kuppel bis zu den Katakomben schon fast Pflicht. Und zufällig war  Colonello Stefano Gensini auch bekannt mit einem amerikanischen Opernstar, Alice Baker. Alice gehörte zum Ensemble des Teatro dell’Opera di Roma. Sie hat schon mit Paverotti, Carreras und Domingo gesungen. Gensini gewann die luftfahrtaffine Altistin als Kulturguide für unseren Abstecher nach Florenz, wo meine Kollegen und ich neben den Uffizien auch die Grabstätte von Gioacchino Rossini in der Basilika Santa Croce besuchten. An seinem Grab sang sie leise (sottovoce) eine Arie von ihrem Lieblingskomponisten, die mich zu Tränen rührte.

Noch tiefer ergriff mich die Erkenntnis, welche Fähigkeiten in einem Opernsänger schlummern: Sänger, Schauspieler, Gedächtnisakrobat, Sprachwunder! Eine Oper dauert im Schnitt zweieinhalb Stunden, Wagner noch länger. Manche Coloraturen strapazieren die Stimmbänder enorm. Texte und Gesang müssen mit Druck in der Stimme und mit Präsenz vorgetragen werden. Um in der Rolle zu überzeugen, müssen Text und Gesang schauspielerisch an das Publikum gebracht werden. Der Text, das Libretto, müssen gelebt werden. Man muss einerseits in die Rolle schlüpfen, andererseits wandelbar sein. Wie sonst schafft man es, im Mai Tosca zu singen, im Juni Fidelio, im August L’Italiana in Algeri und im September die Zauberflöte? Und oft genug wird die Oper auf italienisch, englisch, deutsch oder französisch aufgeführt!

Ich will jetzt gar nicht erst versuchen, den Bogen zur Fliegerei oder zu einem Raumfahrtthema zu schlagen. Ich bin einfach dankbar dafür, dass ich bei einem dienstlichen Austausch mit der Flugsicherungsschule in Rom wieder einmal erfahren habe, wie bedeutungsvoll es ist, über den Zaun zu schauen und sich selbst nicht als Mittelpunkt zu sehen.

Andreas Fecker