Luftpost 322: Zeitenwende

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Foto: Andreas Fecker

Als ich 1972 die Ausbildung zum Fluglotsen antrat, war ich begeistert von der Fliegerei. Es verging kein Jahr, in dem ich nicht mindestens einmal in einen anderen Kontinent flog, um neue Länder, Städte, Landschaften, Berge, Menschen, Kulturen kennenzulernen. Hello world! Here I come! Keine Airline war mir zu abenteuerlich, es dürfte kaum einen Flugzeugtyp geben, in dem ich mich nicht wohlgefühlt hätte, von der DC-3 in den Northwest Territories bis zur Nord-262 auf dem Balkan, von der Twin Otter in Alaska bis zur Beaver im Yukon, von der 707 nach Tokyo bis zum Sperrholzflieger in der Eifel, von der Sikorski in Grönland bis zur Bell zwischen JFK und Downtown Manhattan. Auf Dienst- und Urlaubsreisen zusammen dürfte ich gut und gerne tausend Starts hinter mir haben. Öko? Den Begriff gab es gar nicht.

Reisen und Flughäfen übten eine besondere Faszination auf mich aus, und offenbar war ich damit nicht allein. In den zurückliegenden 50 Jahren wuchs der Flugverkehr in schwindelerregendem Tempo an. Die Prognosen der Flugzeugbauer überschlugen sich, wuchsen in zehntausender Schritten an und wurden immer wieder nach oben korrigiert. Die Lufträume waren so voll, dass sie durch die Vergabe von Slots entzerrt werden mussten. Etablierte Luftstraßen von Funkfeuer zu Funkfeuer wurden durch Shortcuts begradigt, um die Staus in der Luft zu eliminieren. Die Airports wurden zu Erlebnisflughäfen mit Wasserfällen, Schmetterlingsvolieren, Schwimmbädern, Palmengärten, Gourmet-Tempeln, Regenwälder, botanischen Gärten, Glasbodenbrücken über Koi-Teiche, Einkaufspassagen und immer mehr Terminals. Weitere Pisten, Rollwege und Abstellflächen kamen hinzu, noch mehr Boden wurde versiegelt. Über den technischen Fortschritt im Triebwerk- und Flugzeugbau versuchte man, erkannte Belastung und Schäden an Klima und Umwelt zu minimieren.

Gleichzeitig machte der Preiskampf Fliegen immer billiger. Mit den Low Cost Airlines wurde zudem ein neuer Markt geschaffen, den es davor nicht gab. Flüge ans Mittelmeer bekamen den Charakter von Vatertags-Sauftouren. Junggesellenabschiede wurden bereits im Flugzeug gefeiert, nachdem man im Flughafen schon mal vorgeglüht hatte. Bord-Schlägereien wie im Bierzelt waren keine Seltenheit mehr.

Und dann erschien quasi aus dem Nichts ein kleines, unsichtbares Virus mit dem hübschen Namen Corona (wie die mexikanische Biersorte), von wissenschaftlichen Spielverderbern steril COVID-19 genannt. Jäh kam der ganze Weltluftverkehr zum Erliegen. Airlines mussten ca. 95 Prozent ihrer milliardenteuren Flotten stilllegen. Die gesamte Kreuzfahrtindustrie, die einander Jahr für Jahr mit immer größeren Schiffen überboten hatte und von Zubringerflügen in die Hafenstädte der Welt alimentiert wurde, liegt plötzlich brach. Die Illustrierte Stern bezeichnete die Luxusliner bereits als schwimmende Petrischalen, die fast nirgendwo mehr anlegen dürfen, aus Angst, die tausende von klaustrophobischen Menschen an Bord würden den Virus in die Hafenstädte einschleppen. Dieses mikroskopisch kleine Virus führte uns schmerzhaft vor Augen, welche Fehler wir in der Vergangenheit begangen hatten. Unsere tägliche Daseinsvorsorge wurde in Länder mit niedrigen Produktionskosten und prekären Sicherheitsstandards ausgelagert und just-in-time importiert.  Plötzlich schlug die Globalisierung zurück. Lieferketten waren abrupt unterbrochen. Kurzarbeit, Zwangsurlaub, Schul- und Betriebsschließungen, Firmenpleiten waren die Folge. Der Staat pumpt hunderte von Milliarden in die Wirtschaft.

Was nun? Eine Airline nach der anderen stemmt sich noch gegen den Bankrott. Flughäfen streichen ihre Verbindungen, schließen Terminals. Airports und Flugzeugfabriken kann man nicht vom Home Office betreiben. Airbus und Boeing schicken gerade zigtausend Mitarbeiter nach Hause. Alle rosigen Prognosen sind pulverisiert. Es fliegen fast nur noch Cargo-Maschinen, Passagierflugzeuge werden eiligst zu Frachtern umgerüstet. Reisen in die weite Welt? Nur wenn’s absolut sein muss. All-inclusiv hört sich neuerdings an wie eine Drohung, erinnert man sich doch an die wochenlange Quarantäne verzweifelter Touristen an den Traumzielen der Welt. Plötzlich wäre man ja froh über ein paar Tage Urlaub in der eigenen Heimat.

Niemand weiß bis jetzt, wie die Welt in der „postcoronaren Zeit“ aussehen wird. Sicher ist, COVID-19 war ein Weckruf, den die Menschheit dringend gebraucht hat. Wenn es vorbei ist, werden wir uns neu sortieren müssen. Und es wird Jahre dauern. Wir haben das seltene Privileg, Zeugen einer Zeitenwende epischen Ausmaßes zu sein.

Andreas Fecker

Eine Antwort zu “Luftpost 322: Zeitenwende”

  1. Hallo Andreas,

    ehrlich hast du dich zu deinen frühen Sünden bekannt. Vom Saulus zum Paulus. Nichts geht mehr ohne unsere Billgsklaven. Noch nicht einmal „Mund-Nasen-Bedeckungen“ gibt es im eigenen Land. Wertschöpfung Fehlanzeige. Fast nur noch Dienstleistungen. Davon kann keiner leben. Und der dominierende Industriezweig, die als Zusammenschrauber von weltweiten Fremdteilen heruntergekommene Autoindustrie wankt. Ob SUVs Wertschöpfung darstellen oder Wertevernichtung, mag sich jeder selbst beantworten. Corona ist ein Geschenk des Himmels. Und Corona wird auf Dauer bleiben wie die Influenza oder der Virenschnupfen, sozialadäquates Ableben eingeschlossen. Wir dürfen uns nicht über die Natur erheben. Deren Lebensplan basiert auf Mutation, Selektion und Evolution.

    Gesunde Grüße vom Fluglärm- und Umweltaktivisten HaWi