Kapitel 17
Der Festtag nahte. Und je näher die Hochzeit rückte, um so hektischer wurden die Tage. Seit Wochen gingen bei den Deiddas Frauen ein und aus, die halfen, Nudeln in den verschiedensten Formen herzustellen: Penne, Farfalle, Malloreddus, Culingionis, Ravioli. Die Füllungen machte eine Tante Maria Grazias mit dem Ricotta, den Sebastiano aus der Milch seiner Schafe gewann. Im ganzen Ort wurden Schafe, Lämmer, Ziegen, Ferkel und Schweine geschlachtet und an das Restaurant, das die Deiddas ausgesucht hatten, geliefert. Die Bürger von Orgoiada plünderten ihre Gärten, um Gemüse und Obst beizusteuern. Aus den Vorratskammern holten sie die besten Schinken, Salsiccias, Käseballen, eingelegte Oliven und Pilze und die erlesensten Weine und stifteten sie dem Hochzeitspaar. Kinder suchten auf den Feldern nach jedem Regen und jeder feuchten Nacht Schnecken.
Zwei Bäcker, das ganze Jahr über Erzrivalen, taten sich für die bevorstehende Hochzeit einer alten Tradition folgend, zusammen und kreierten einen Traum von einer Hochzeitstorte. Aufkommende Meinungsverschiedenheiten wurden jeweils mit einem Glas Grappa, gemeinsam getrunken, beigelegt. (Man erzählte sich, dass die beiden im vergangenen Jahr neun Flaschen dieses hochprozentigen Getränks benötigten, um sich über Form und Aussehen ihres Kunstwerkes zu einigen. Am Ende kam der Hochzeitstag, und die Torte war nicht fertig. Stattdessen trug man zum Vergnügen aller Gäste zwei sturzbetrunkene Bäcker in den Saal. Seitdem stand man der Tradition eher skeptisch gegenüber. Die beiden Bäcker hatten sich daraufhin jedoch geschworen, sich in Zukunft schneller zu einigen.)
Aber auch in zahlreichen Häusern glühten die Backöfen, um Pane Curasau und Gebäck aus Anis, Zucker, süßem Teig oder Marzipan zu backen. Gianni, einer von Maria Grazias Brüdern, machte mit Sebastianos bestem Freund Sergio die Runde durch den Ort, um die Hochzeitsgäste einzuladen. Sie hatten eine Liste von 500 Namen, von denen nach und nach 470 zusagten zu erscheinen. Würde nicht der ganze Ort zusammenhelfen, und würde nicht ein jeder am Ende der Festlichkeiten einen Geldbetrag spenden, ein solches Fest, das zwei Tage dauerte, wäre weder für die Deiddas noch für Pusceddu zu finanzieren. So gehörte es zu den zahlreichen Traditionen von Orgoiada, einem Brautpaar den schönsten Tag ihres Lebens zu bereiten. Äußerlich zumindest.
Zwei Tage vorher, am Donnerstag, schmückten Maria Grazias Geschwister Sebastianos Haus mit Kränzen, Zweigen, Blumen, Bändern und Tüchern. Innen war bereits seit Tagen Großputz im Gange. Nicht nur mit Besen und Lappen, sondern auch mit Pinsel und Farbe.
Schließlich konnten sich die Pusceddus vor Besuch und Geschenken fast nicht retten. Das Haus quoll über vor lauter nützlichen Sachen, die sie entweder hier oder draußen in San Giovanni gebrauchen konnten. An seine Arbeit als Hirte war in diesen letzten Tagen von Sebastianos Junggesellendasein nicht mehr zu denken. Ein Freund von ihm, Mario, sprang für ihn ein, molk die Schafe und bereitete den Käse.
Der Strom der Besucher riss nicht ab. Trotzdem empfing und bewirtete er jeden einzelnen, als sei er der Ehrengast in seinem Haus. Ständig dampfte und brodelte eine der Kaffeekannen auf Sebastianos Herd, und die Weingläser waren stets gefüllt.
Raffaela schließlich war vollends aus dem Häuschen. Sie huschte von einem Zimmer in das nächste, bestaunte die Geschenke, erzählte allen Gästen, was sie von wem gekriegt hatten und brachte natürlich alles durcheinander. Dann wieder rannte sie über die Straße zu den Deiddas, deren Tür ebenfalls offenstand, und stiftete dort Unruhe. Wieder kam sie zurück und brachte Sebastiano ein kleines, fast quadratisches Schächtelchen in rotem Geschenkpapier.
”Bastiano, schau, das lag vor unserer Haustür!”
”Lass mal sehen”, sagte ihr Bruder neugierig und nahm das Präsent entgegen. Es war nicht größer als ihre Kinderhand.
”Hm”, sagte er, ”kein Absender. Schauen wir doch einfach mal rein, was drin ist. Vielleicht liegt ein Kärtchen dabei.”
Er öffnete das rote Papier und brachte eine Streichholzschachtel zum Vorschein. Die Steuerbandarole war zerrissen, die Schachtel war voll. Befremdet musterte er die Zündholzschachtel. Ein einziger Strich zog sich diagonal über die Reibfläche. Michele, der gerade bei ihm zu Besuch war, lachte über den Scherz.
”Na ja, besser als ein verpackter Ziegelstein. Damit kannst du wenigstens Feuer im Kamin machen.”
”Stimmt”, pflichtete Sebastiano ihm bei und legte die Schachtel lächelnd auf den Kaminsims. Und ab ging Raffaela, wieder zu den Deiddas, und erzählte ihnen, dass ihnen jemand Streichhölzer geschenkt habe, und sie von nun an nicht mehr zu frieren brauchten.
Kapitel 18
”Willst du, Sebastiano, deine Frau lieben und achten und ihr die Treue halten, bis dass der Tod euch scheidet?”
”Ja.”
”Willst du, Maria Grazia, deinen Mann lieben und achten und ihm die Treue halten, bis dass der Tod euch scheidet?”
”Ja.”
Don Cocco segnete die Ringe und gab den kleineren Sebastiano. Dieser steckte ihn an die linke Hand seiner Braut.
”Maria Grazia, nimm diesen Ring und trage ihn fortan als Zeichen meiner Liebe und Treue.”
Daraufhin wiederholte Maria dieselbe Formel und sagte, während sie ihm den Ring an den Finger steckte:
”Sebastiano, nimm diesen Ring und trage ihn fortan als Zeichen meiner Liebe und Treue.”
Don Cocco forderte sie auf, sich die rechte Hand zu geben, umwickelte sie mit der Stola und legte seine eigene Rechte darauf: ”Von jetzt an, wo ihr vor Gott die Ehe geschlossen und das Treueversprechen gegeben habt, seid ihr Mann und Frau. Euch alle, die Ihr zugegen seid, nehme ich zu Zeugen dieses heiligen Bundes. Was Gott verbunden hat, soll der Mensch nicht trennen.”
Den Rest der Trauungszeremonie bekam das Brautpaar nur noch schemenhaft mit, so glücklich waren die beiden. Erst später würden die Einzelheiten nach und nach zu Bewusstsein kommen.
Der ganze Ort stand Spalier, applaudierte und bewarf das Brautpaar mit Reis, bis es in das festlich geschmückte Restaurant Caredda einzog. Eine Folkloregruppe folgte ihnen singend, tanzend und musizierend.
Das Hochzeitsmahl ließ nichts zu wünschen übrig. Das Fest eines Fürsten konnte nicht großartiger sein als die Hochzeit von Sebastiano und Maria Grazia Pusceddu. Zwei Tage lang stand der Ort auf dem Kopf, denn nicht nur im Restaurant wurde gesungen und getanzt, sondern auch außerhalb. Es gab niemanden in Orgoiada, der an dem Fest nicht irgendwie Anteil hatte.
Als im Verlauf des zweiten Tages Sebastiano gebeten wurde, eine Rede zu halten, stand er auf.
”Liebe Freunde, liebe Bürger von Orgoiada, ich weiß nicht, wo ich anfangen soll, euch zu danken. Ihr habt meiner lieben Frau und mir ein sehr schönes Fest bereitet. Ich stelle fest, dass Maria und ich sehr viele Freunde haben. Diese Tatsache gibt mir die Kraft und die Kühnheit, etwas zu sagen, was sonst nie über meine Lippen käme. Denn nur ein Freund wird verstehen, was ich jetzt sage. Ihr habt mir alle Geschenke gebracht, nützliche Sachen, teure Sachen, Dinge, die Freude bereiten. Eines jedoch habe ich von keinem erhalten, das, was ich am Allermeisten gewünscht hatte. Keiner ist zu mir gekommen und hat gesagt: Sebastiano, ich bringe dir mein Blut für Raffaela. Ich verpflichte mich, deiner Schwester viermal im Jahr Blut zu spenden. Dieses wäre wahrhaftig das wertvollste, teuerste, liebste, kostbarste und zugleich billigste Geschenk gewesen.”
Sebastiano ließ sich auf den Stuhl fallen und verbarg sein Gesicht in seinen Händen. Raffaela und Maria Grazia trösteten ihn. Im Saal breitete sich Unruhe aus. Sergio, sein Freund, sprang auf den Tisch, eine Karaffe Rotwein in der Hand und rief mit der kräftigen Stimme eines Hirten, der gewohnt war, gegen Wind und Wetter über große Entfernungen seine Tiere zu lenken:
”Ruhe im Saal! Ruhe! Sebastiano, Maria, Raffaela, Bürger von Orgoiada, hört mich an! Sebastiano hat mit wenigen Worten eine traurige Wahrheit ausgesprochen. Was sind wir nur für Mitmenschen, was sind wir für Freunde, dass wir so blind sind! Müssen wir uns wirklich bitten lassen? Müssen wir uns anflehen lassen, unser Blut zu schenken? Was ist das für eine Gemeinschaft, wenn wir denen, die Hilfe brauchen, nicht Hilfe geben? Was sind wir für Nachbarn, was für Christen, dass wir nicht erkennen, was unser Freund am nötigsten hat?
Sebastiano, Maria, Raffaela, seht diese Karaffe mit Rotwein. Dieser Wein floss auf eurer Hochzeit in Strömen. Genauso soll unser Blut in Strömen fließen, für euch, und für jeden der es benötigt in Orgoiada. Ich verspreche euch hiermit, Don Cocco sei mein Zeuge, dass Raffaela nie wieder auf ihr Blut wird warten müssen. Wir werden einen Jahresplan erstellen und ihn öffentlich aushängen. Jeder kann sich eintragen. Ich gehe noch weiter. Herr Bürgermeister, hören Sie gut zu, ich nehme Sie in die Pflicht. Hängen Sie eine zweite Liste aus. Dort können sich die eintragen, die kein Blut spenden können oder dürfen, aber trotzdem helfen wollen. Diese könnten entweder den Transport der Blutspender übernehmen oder einen Geldbetrag stiften, der dann zugunsten von an Thalassämie erkrankten Kinder, oder zur Erstattung der Fahrtkosten zur Blutspende oder zur Transfusion verwendet wird.”
Behände sprang er vom Tisch und eilte, vom Applaus des Saales begleitet, zu seinem Freund Sebastiano. Sie umarmten sich, Sergio klopfte dem Kameraden auf den Rücken. ”Wir sorgen für Euch. Habt Vertrauen.”
Sebastiano nickte. Dann löste er sich aus der Umarmung seines Freundes und nahm Raffaela bei der Hand. ”Ich danke euch allen von ganzem Herzen. Nun haben wir es doch, das großartigste Geschenk der Welt. Verzeiht mir, dass ich darüber geredet habe. Ich bin sehr glücklich, denn ich musste tagtäglich daran denken, woher ich für Boella wieder Blut kriege. Danke, danke, danke!”
Es gab keinen besseren Augenblick, als den jetzigen, sich unter dem Applaus der Hochzeitsgäste zu verabschieden. Winkend und händeschüttelnd verließen der Hirte, seine junge Frau und die sechsjährige Raffaela den Saal. Dies war der krönende Abschluss des Hochzeitsfestes. Im Saal würde nun die Diskussion über das kühne Versprechen losgehen, und man würde noch bis in den frühen Montagmorgen zusammensitzen.
Maria Grazia brachte ihre kleine Schwägerin zu Bett, während Sebastiano im Kamin Holz aufschichtete, um Feuer zu machen. Seine Familie sollte es warm bei ihm haben. Sein Blick fiel auf die Streichholzschachtel, jenes seltsame Hochzeitsgeschenk. Er hätte keinen Gedanken daran verschwendet, wäre da nicht jener diagonale Strich auf der Reibfläche gewesen. Er entzündete das Feuer und warf dann mit einer plötzlichen, entschlossenen Bewegung die ganze Schachtel hinein. Gleich darauf loderte eine Stichflamme empor, als die 49 Zündhölzchen Feuer fingen. Eine böse Ahnung stieg in ihm auf.
Auszug aus dem Roman „Der Hirte“ von Andreas Fecker
Ich habe diesen Roman vor meiner Rückversetzung aus Sardinien geschrieben, um Lösungen vorzuschlagen. Ich wollte nach vier Jahren nicht gehen, ohne ein Vermächtnis zu hinterlassen. Das Buch ist voll von versteckten Vorschlägen, verpackt in die Dramatik der Handlung. In wieweit diese Vorschläge umgesetzt wurden, weiß ich nicht. Als ich die Buchauszüge für die Leseprobe zusammenstellte, hatte ich die Gewissheit, dass sich auch in Deutschland das Bewußtsein ändern muss, um die Blutspendebereitschaft zu erhöhen. Vielleicht entdeckt der Blutspendedienst des DRK den Text und nutzt das Buch, um das Spenderaufkommen zu erhöhen? Ich wollte eigentlich nur ein Herzensanliegen in unterhaltende Lektüre verpacken.
Andreas Fecker