Die Marshall-Inseln: In der Ruhe liegt die Kraft

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Marshall-Inseln Foto: Bildarchiv Fecker

Dass eine Reise zu den Marshallinseln etwas Besonderes ist, wird schon an der letzten Etappe spürbar, wenn man über Hawaii fliegt. Der Start in Honolulu ist beispielsweise am Montagmorgen um 06:55 Uhr, Ankunft in Majuro nach gut fünf Stunden Flug ist aber erst am Dienstagmittag. Sieht man die Sache andersrum, kann man nach dem Sprichwort gehen: Der frühe Vogel fängt den Wurm, denn die Marshallinseln liegen gleich hinter der internationalen Datumsgrenze. Hier fängt der Tag an, hier kann mein sein Pensum schon mal in Ruhe abarbeiten und den Geschäftspartnern in der Schweiz oder in Deutschland ins Email Postfach legen, wo sie es dann am folgenden Morgen als erstes öffnen werden. Aber, wir wollen ja nicht von Geschäften reden, sondern von Ruhe, Erholung und Gelassenheit.

Marshall-Inseln 40-Pfennig Briefmarke Foto: Bildarchiv Fecker

Die Marshallinseln waren von 1906 bis 1914 Teil der deutschen Kolonie Neuguinea. Das Inselreich mit den 26 Atollen erstreckt sich über eine Fläche von 1,9 Millionen Quadratkilometer. Die Hauptstadt ist Majuro, eine sich endlos lang ziehende Bandwurmsiedlung von höchstens hundert Metern Breite. Die Lebensmittelpunkte konzentrieren sich um die unterschiedlichen Hotels mit ihren Restaurants und Bars. Besonders letztere üben eine besondere Anziehungskraft aus. Dort treffen sich Abend für Abend die Gäste, Touristen, Langzeitbewohner, Hängengebliebene, Aussteiger und Einheimische zu tiefschürfenden oder oberflächlichen Gesprächen und zu endlosen „Absacker-Orgien“. Hier tauscht man seine Erlebnisse vom Tag aus, und mögen sie noch so klein gewesen sein: Die Sturmfahrt mit dem Boot zu einem Nachbaratoll, oder auch die Gegenwart von Sandflöhen in einem bestimmten Hotel, oder gar die aufregende Jagd nach einer Kakerlake, die mit einem hässlichen Fleck an der Wand endete.

Was tun, in Majuro, im Paradies am anderen Ende der Welt? Der morgendliche Tauchgang mit dem Schnorchel im samtweichen Wasser ist bald absolviert, der Spaziergang am Ufer der türkisfarbenen Lagune entlang, während der Room-Service das Zimmer reinigt, ist bald zu Ende. Die Sonne demonstriert ihre Kraft und treibt den touristischen Fremdkörper wieder zurück auf seine Veranda, wo er durch den offenen Türspalt einen angenehmen Hauch der Klimaanlage abbekommt. Die Möglichkeiten sind beschränkt: Das Museum erweist sich als geschlossen. Die Zeitung erscheint nur einmal die Woche. Die staatliche Air Marshall Islands hat zwar ein Streckennetz, das in seiner Ausdehnung mit dem Europanetz der Lufthansa konkurriert. Die Airline hat in den 33 Jahren ihrer Existenz noch keinen Dollar verdient. Kein Wunder, denn auch heute wurden alle Flüge zu Nachbar-Atollen wegen technischem Defekt an der letzten verbliebenen Maschine storniert. Die frustrierten Kunden erhalten eine Praline und werden auf unbestimmte Zeit vertröstet. Das Schiffsunternehmen Central Pacific Maritime zuckt die Schultern und verweist darauf, dass derzeit alle Schiffe in Reparatur sind. Das Fernsehprogramm ist amerikanisch geprägt und schlecht genug, dass es auch nicht als Alternative taugt.

Marshall-Inseln Foto: Bildarchiv Fecker

Da wir ja nun wissen, dass fast die Hälfte unserer Bevölkerung an psychovegetativen oder nervösen Spannungen leidet, müssten wir eigentlich auf dem richtigen Weg sein, den Stress auszuschalten, der ja bekanntlich als Auslöser verschiedenster Erkrankungen gilt. Also müssten Verspannungen, Kopf- oder Rückenschmerzen nachlassen. Stress bedroht uns gar mit Magengeschwüren oder Herzinfarkt. Geistige und körperliche Ruhephasen sollen ja den Körper in die Lage versetzen, wieder ausreichend Energie zu tanken. Andererseits wirken Langeweile und Alkohol genauso belastend wie zu langes Schlafen oder exzessiver Sport. Es geht also darum, einen Kompromiss zu finden, die Ruhe der Umgebung in unser Innerstes aufzunehmen und ein seelisches Gleichgewicht zu finden.

Eine Antwort darauf könnte die Anmietung eines Autos sein, das einem die 30 km lange Straße von einem Ende der Insel zum anderen kürzer erscheinen lässt. Es gibt nämlich stets Neues zu entdecken. Schnell wird man merken, dass die Höchstgeschwindigkeit von 25 km/h meist noch zu hoch ist, denn die kleinen Kinder mit der dunkelbraunen Hautfarbe treten allerorts unvermittelt aus dem Schatten einer Palme und überqueren die Straße.

Marshall-Inseln Foto: Bildarchiv Fecker

Der aufkommenden Langeweile Herr zu werden, ist sicher das Herabschrauben der Ansprüche. Zuhause wird man unterhalten und beschäftigt, ob man will oder nicht. Wir werden bombardiert von Werbung, Nachrichten, Anrufen oder Sorgen um unser Erspartes (womit wir ja selbst in die Südsee fahren wollen, und nicht die, die unser Geld am Finanzmarkt verzocken). In der paradiesischen Zurückgezogenheit wird man bald seinen Puls herab fahren, sich langsamer bewegen, dem einheimischen Motto anpassen: Was Du heute kannst besorgen, hat auch Zeit bis morgen. In der Tat, beobachtet man die Menschen, so fällt auf, dass sie sich fast wie in Zeitlupe bewegen. Nirgendwo ist Hast oder Verbissenheit. Alle haben ein zufriedenes Lächeln auf dem Gesicht, stets ist Zeit für einen freundlichen Gruß. Dabei hätten die Insulaner tatsächlich genügend Sorgen: Wohin zum Beispiel mit dem Schrott? Mit dem Abfall? Gibt es genügend Frischwasser? Die Atolle haben keine Quellen und leben ausschließlich von Regenwasser, das in großen Tonnen aufgefangen wird.

Und so sitzt man dann auf seiner kleinen Veranda, mitten im Paradies und macht sich die Sorgen der Marshaller zu Eigen. Unwillkürlich wird man die Klimaanlage abschalten oder zumindest die Türe schließen, damit der kostbare Strom nicht vergeudet wird. Man wird sparsamer mit dem Wasser umgehen und bewusster mit den Rohstoffen haushalten, man wird auf verschwenderische Verpackung achten und bewusster zu Leben beginnen. Man wird das kleine Atoll als einen Mikrokosmos begreifen und eine neue Sicht auf das Leben entwickeln.

Wer nicht die Ruhe hat und die Stille sucht, der ist im Stillen Ozean fehl am Platz. Wer nicht den Frieden in seiner Seele sucht, wird ihn auch im Pazifischen Ozean nicht finden. Wer nicht die Zeit und die Muße hat, ein zwei Tage auf die Abfahrt eines Schiffes zu warten, der soll nach Tokio gehen, dort fahren die Züge auf die Sekunde genau ab.

Ein Beitrag von Andreas Fecker