Luftpost 33: Olympische Gedanken

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Andreas Fecker – Foto: Bildarchiv Fecker

Anlässlich der Olympischen Winterspiele in Sotschi will ich einmal eine Luftpost mit ungewöhnlichen olympischen Bezügen wagen. Als erstes fällt mir dazu die anspruchsvolle Logistik ein. Tonnenweise wird aus allen teilnehmenden Ländern Material eingeflogen: Spezialgefertigte Ski-Paare für die Disziplinen Alpin, Biathlon, Langlauf, Freestyle und Skispringen. Waffen und Munition für Biathlon, 1er, 2er und 4er Bobs, Skeleton, Schlittschuhe, Eishockey Equipment, Helme, Rennanzüge, Uniformen für etwa 2500 Athleten, die in über 80 Disziplinen antreten. Dazu Ersatz-Material für möglichen Bruch, Winterkleidung und was sonst noch gebraucht wird. Die zweieinhalbtausend Athleten werden im Allgemeinen von mindestens noch einmal so vielen Funktionären, Betreuern und Ärzten begleitet. Verwandte, Schlachtenbummler und Wintersportbegeisterte aus aller Welt werden in Sotschi einfliegen. Der Flughafen muss all dieses Aufkommen an Passagieren und Fracht verarbeiten. Ein vergleichsweise verträumter Airport wird in Overdrive gehen müssen, um den Verkehr zu bewältigen.

Szenenwechsel: 9. September 1996, zwölf Jahre nach der Winterolympiade, wurde das zerstörte Stadion von Sarajevo nach dem Bosnienkrieg (1992-1996) wiedereröffnet. Zu diesem Anlass kamen 50.000 Zuschauer, über hundert Athleten aus aller Welt, darunter viele Olympiasieger von 1984, das gesamte IOC, Politiker und Diplomaten, um dieser Veranstaltung des Friedens und der Solidarität einen würdigen Rahmen zu geben.

Gehen wir noch ein paar Monate zurück zum 3. April 1996. Eine amerikanische Regierungsmaschine mit Handelsminister Ron Brown an Bord crasht bei Dubrovnik gegen einen Berg. Die Unfalluntersuchungskommission führt den Unfall auf fehlerhafte Anflugverfahren im früheren Jugoslawien zurück. Als Konsequenz stellt die NATO eine kleine Einheit von Spezialisten auf. Zehn Verfahrens-Designer aus fünf Nationen arbeiteten fortan unter Hochdruck, um die An- und Abflugverfahren in dem zerstörten Land neu zu berechnen. Da in Bosnien die Navigations- und Instrumentenlandesysteme noch in Trümmern lagen, war dies kein einfaches Unterfangen.

Der politische Druck auf die Spezialisten war ungeheuer. Die verunsicherte Luftfahrt wartete auf die neuen Verfahren. Das Team ging in Klausur und arbeitete an der Flugsicherungsschule der Bundeswehr in Kaufbeuren über Wochen hinweg Tag und Nacht, Wochenenden eingeschlossen. Die Männer waren von der Welt um sich herum abgeschottet. Keine Nachrichten, kein Sportverein, keine sozialen Kontakte. Anfang September waren die neue Luftraumstruktur und die Verfahren für alle vier bosnischen Flughäfen fertig berechnet, gezeichnet, im Simulator unter allen Bedingungen getestet, flugüberprüft und genehmigt. Der Teamleiter entschied, das ganze Paket mit einem Big Bang an einem Wochenende um Mitternacht in Betrieb zu nehmen, da Samstag/Sonntag erfahrungsgemäß wenig Flugbetrieb herrschte. Der Teamleiter war auch der Überzeugung, eine Woche Vorlauf müsste unter diesen Umständen genügen, alle 25 Nationen zu informieren, die sich an der Stabilization Force (SFOR) beteiligten. Obwohl das Nachkriegsbosnien unter militärischer Aufsicht der SFOR stand, erhielten auch die zivilen NOTAM Büros das Material, um es in die Nachrichten für Luftfahrer einzuschleusen. Zusätzlich wurden alle Änderungen auf der Internetseite des Teams veröffentlicht. Der Begleittext für den Flughafen Sarajevo, mit dem die Verfahren zum Stichtag in Kraft gesetzt wurden, lautete kurz und knackig: „Aircrews not in possession of the new procedures will not land at Sarajevo. Piloten, die nicht im Besitz der neuen Verfahren sind, werden nicht in Sarajevo landen.“

Niemand hatte dem Teamleiter vorher gesagt, was am 8. September in Sarajevo stattfinden würde. Er wusste nicht, dass dies der verkehrsreichste Tag des Jahres werden würde, dass Charterflugzeuge aus aller Welt einschweben würden, beladen mit VIPs. Als erstes erwischte es ausgerechnet den griechischen Minister für Sport, der bei der Veranstaltung das Geburtsland der Olympischen Spiele vertreten sollte. Sein Flugzeug musste umdrehen und nach Athen zurückfliegen. Einige weitere folgten. Verschiedene Zeitungen aus aller Welt schrieben später über die bewegende Feier, erwähnten aber auch die beschwerliche Anreise.

Warum ich diesen Event nicht vergesse? Ich war damals der Teamleiter jener kleinen NATO Einheit, der diese Entscheidung traf. Nichts lag mir damals ferner als irgendein olympischer Gedanke. Hätte ich mich damals schlau gemacht, eine Woche später hätte es auch noch getan. Die Entscheidung blieb ohne weitere Folgen. Ich habe für mich zwei Dinge daraus gelernt:

• Man kann sich gar nicht genug informieren.
• Es ist trotzdem immer möglich, dass Umstände aus einer Richtung zu Störfaktoren werden können, die man vorher nicht für möglich hielt.

von Andreas Fecker