Luftpost 32: Schleudersitz

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Andreas Fecker im Starfighter Foto: Bildarchiv Fecker

In der Luftpost Nr. 13 habe ich von Fallschirmen erzählt, und warum diese dem Militär oder geschulten Fallschirmspringern vorbehalten bleiben sollten. Und man möge mir das glauben, jeder Pilot möchte gleich viele Landungen in sein Logbuch eintragen, wie er Starts protokolliert hat. Niemand ist scharf auf eine so genannte „Nylonlandung“. Aber wenn es denn doch so weit kommen soll, wie neulich in der Eifel, dann vertrauen die Besatzungen darauf, dass das Rettungssystem, auf dem sie bei all ihren Flügen unter und über der Schallgrenze sitzen, reibungslos funktioniert.

Es gibt verschiedene Hersteller von Schleudersitzen, daher mag die unten beschriebene Funktionsweise in Details abweichen, und die angegebenen Zeiten werden im Laufe der weiteren Verbesserung sicherlich immer wieder unterboten.

Wie also funktioniert ein Schleudersitz? Noch zu F-84 Zeiten mussten die Piloten bis zum Erbrechen einen Spruch aufsagen können: „Throttle – Bottle disconnect – Visor – Left – Right – Trigger“ Das Kabinendach flog weg, und ab ging die Post. Erst musste der Gashebel zurückgestellt, dann der Maskenschlauch von der Sauerstoffflasche getrennt werden, Visier am Helm heruntergeklappt, linke und rechte Hand auf die Armlehne, und dort war dann auch der Auslöser für den Ausschuss.

Heute geht das viel einfacher. Im Prinzip zieht der Pilot einen der beiden Ringe, die er über dem Helm und zwischen den Beinen hat, und schon fliegt er mitsamt dem Sitz aus dem Cockpit. Aber die Luftpost wäre nicht die Luftpost, wenn man nicht ein paar spannendere Dinge erfahren könnte.

Wenn der Pilot die Maschine besteigt, trägt er außer seinem Helm und seiner Maske eine aufblasbare Schwimmweste, einen Fallschirm und Fanggurte an beiden Fußgelenken. Er steigt nun in den Sitz und schnallt sich an. Ein Vierpunktgurt, der großzügiges Vorbeugen erlaubt, hält den Piloten auf dem Sitz, ein kleiner Gurt hält das Survival-Pack. Die Fanggurte an den Fußgelenken werden in zwei Kabel eingehängt, die unten aus dem Sitz kommen und über einen Aufrollmechanismus gespannt gehalten werden. Der Sitz läuft mit Rollen in zwei U-Schienen, unten ist er mittels Schlössern und Sollbruchbolzen befestigt. Er ruht jedoch gänzlich auf einem Raketenkatapult.

Am Boden ist der Sitz mit zwei Sicherheitsstiften gesichert, die erst kurz vor dem Start gezogen werden. Dann ist der Sitz ‘heiß‘. Sollte sich der Flugzeugführer nun aus irgendwelchen Gründen hinausschießen müssen, man sagt auch ‘aussteigen’, zieht er den Ring, der seinen Händen am nächsten ist. Drei Kabel sind an dem Abzug befestigt, die nacheinander etwa 100 Funktionen innerhalb von 3 Sekunden auslösen. Das kürzeste der drei Kabel feuert den Zünder. Aus einer Gaspatrone gelangt Druck auf den Absprengmechanismus des Kabinendaches. Fast gleichzeitig wird vom zweiten Kabel eine weitere Patrone gezündet, deren Gasdruck die ‘Vor-Ausschuss-Druckkartusche auslöst. Sie treibt einen hydraulisch gedämpften Kolben an, der alle Ausschuss-Vorbereitungs-Funktionen steuert. Inzwischen ist das Kabinendach weggeflogen.

Ein Exzenter an beiden Seiten des Sitzes wirbelt herum. Dessen Schaft verhindert, dass die Knie des Piloten während des Ausschusses nach außen stehen. Gleichzeitig wird ein engmaschiges Netz über Schultern und Arme gezogen. Im Sitz beginnt eine Trommel zu laufen, auf die die Fußrückholkabel aufgewickelt werden. So werden die Füße zurückgezogen, während der Pilot eng an den Sitz gefesselt ist. Seit dem Ziehen des Ringes sind jetzt 0,3 Sekunden vergangen. Null Komma drei Sekunden! Jetzt löst der Kolben eine weitere Patrone aus, deren Gasdruck in die Katapult-Kartusche schießt. Die Schlösser gehen auf, die Bolzen brechen, der Kartuschendruck schießt das teleskopartige Katapult mit zwölffacher Erdbeschleunigung, kurz ‘G’ genannt, nach oben. Der Sitz hat das Cockpit noch nicht verlassen, da zündet der Raketenmotor unter ihm. Weitere fünf bis sieben ‘G’ beschleunigen den Sitz für genau 0,3 Sekunden, dann hat der Feuerstuhl die Gipfelhöhe von 70 Metern über der Ausschusshöhe erreicht. Während der Sitz das Cockpit verließ, hat er einen Schalter ausgelöst, der auf einer Notfrequenz einen Heulton sendet, den alle Flugsicherungsstationen in großem Umkreis empfangen und anpeilen können. Zudem wird ein Notsignal übermittelt. Auf allen Radargeräten, die das entsprechende Gebiet abdecken wird die Absturzstelle mit einem auffälligen, blinkenden Code markiert. Zeit vom Ziehen des Ringes bis zum Zünden des Raketenmotors: eine halbe Sekunde.

Während sich der Sitz vom Flugzeug trennt, wird das Sitz/Mann-Trennungssystem aktiviert. Ein Bolzen schlägt auf einen Zünder, der mit einer Sekunde Verspätung – am Scheitelpunkt der Flugbahn – reagiert. Gasdruck dringt in die Kolbenzylinder der beiden Fußkabelschneider, die die Fußfesseln durchtrennen. Der Überschussdruck löst eine weitere Gasdruckpatrone aus, deren Energie durch einen dünnen Schlauch in den Verschluss des Vierpunktgurtes gerät. Das Schloss springt auf. Wiederum wird durch den Überschussdruck eine weitere Patrone gefeuert. Die Gurte und Armnetze werden aufgerollt, die Trennbänder mit 1800 Pfund gespannt. Während sich der Sitz vom Mann trennt, wird die Reißleine des Fallschirms herausgezogen. Das setzt den barometrischen Zünder in Gang. Dieser öffnet den Schirm bei einer bestimmten Mindesthöhe, bzw. eine Sekunde nach der Trennung, wenn der Ausschuss unterhalb dieser Höhe erfolgen sollte.

Der Pilot bekommt von alledem nichts mit. Während der Sitz aus dem Cockpit ‘zischt’, sackt das Blut in Richtung der Beine. Das Gehirn wird nicht mehr versorgt, ein kurzzeitiger Blackout tritt ein. Der Flugzeugführer kommt erst wieder zu sich, wenn er am Schirm hängt, mit seinem Überlebensgepäck unter dem Hintern. Natürlich ist in der Luftfahrt alles redundant. Die wichtigsten Funktionen sind daher doppelt gesichert: Das mit etwa 20 cm längste der drei Kabel, die von dem Ring ausgezogen werden, feuert einen Zünder, der mit einer Sekunde Verzögerung das Katapult startet, egal ob die Funktionen nun abgelaufen sind oder nicht. Eine zweite Patrone durchtrennt das Fußkabel mit 0,3 Sekunden Verzögerung auf das erste System. Zusätzlich können die Fußkabelschneider auch noch manuell ausgelöst werden. Sollte das Dach aus irgendwelchen Gründen nicht abgesprengt werden, fliegt der Pilot mitsamt seinem Sitz durch das Glas. Das Helmvisier springt dabei automatisch vor das Gesicht des Flugzeugführers.

Man könnte ja nun fragen, wozu das Ziehen an einem Ring? Warum geht das nicht elektrisch? Auf Knopfdruck? Die Antwort lässt Computerexperten unbefriedigt zurück. Es ist ein letztes Stück Misstrauen der Technik gegenüber. Könnte womöglich eine Fehlschaltung, ein Kurzschluss, ein Hackerangriff einen unbeabsichtigten Ausschuss herbeiführen? Dieses letzte Stück Mechanik, das Willen und Muskelkraft des Piloten erfordert, das möchte man schon noch bewahren.

Bei dem Sitz, auf dem ich gelernt habe, hing man 4,4 bis 5,1 Sekunden später am Schirm. Heute geht das noch schneller. Aber das Rettungssystem erschöpft sich nicht mit dem Ausschuss. Landet der Pilot im Wasser, bläst sich automatisch die Schwimmweste auf. Das gleiche passiert mit dem orangefarbenen Mini-Schlauchboot, das er mitsamt einem Survival-Kit als Sitzpolster unter seinem Hintern hatte (siehe dazu Luftpost Nr. 17). Es ist mit dem Piloten verbunden und verbleibt bei der Sitztrennung am Mann. Und bis er sich seines nassen Fallschirms und des Leinengewirrs entledigt hat, schwimmt neben ihm ein aufgeblasenes Schlauchboot.

Hat er es geschafft, da hineinzukriechen, eine Kunst für sich, hat er alles zur Verfügung, was ein Mann/Frau in Not braucht: Notradio, Rauchkerzen, Verpflegung für zwei Wochen, Meerwasserentsalzungsgerät, Signalspiegel, Angelzeug, Paddel, Lampe und Batterien, Kompass, Moskitonetz und warme Kleidung. Für die Tiefflugeinsätze in Kanada ist außerdem noch Survivalausrüstung für ein längeres Lager an Land vorhanden: Axt, Feile, ein zerlegtes Gewehr, Munition, Fallendraht, Streichhölzer, und und und. Für den Flugzeugführer ist wirklich gesorgt. Hauptsache er kommt unverletzt aus der Maschine und er bleibt nicht hilflos im Baum hängen, wie der Pilot letzte Woche in der Eifel.

Es gibt übrigens für zweisitzige Kampfjets ein Ausschussfolgesystem, das verhindert, dass beide Sitze in der Luft kollidieren. Das ist vor dem Flug unterschiedlich schaltbar und – wiederum vor dem Flug – miteinander abzusprechen (!): 1.) Vorne löst beide Sitze aus (im Alltagsbetrieb üblich), 2.) hinten löst beide Sitze aus (im Trainingsbetrieb üblich, wenn hinten ein Fluglehrer sitzt), 3.) wechselweise Auslösung möglich, 4.) jeder Sitz geht alleine. Eines geht nicht mehr: Ein Schüler kann seinen Lehrer nicht aus dem Cockpit schießen. Das ist nach einem entsprechenden Zwischenfall in den USA auch so gewollt!

von Andreas Fecker