Luftpost 259: Humlikon

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Andreas Fecker – Foto: Fecker

Manchmal schreibt das Leben tragische Geschichten, die man auch mit viel Fantasie nicht erfinden könnte. Der Name der Geschichte: Humlikon, ein kleines Bauerndorf zwischen Zürich und Schaffhausen. 217 Einwohner. Doch dazu später, denn die Geschichte beginnt auf dem Flughafen in Zürich.

Am Morgen des 4. September 1963 herrscht dichter Nebel in Kloten. Um 07:00 Uhr rollt SR 304, eine Caravelle der Swissair zum Start. Ein Follow Me Fahrzeug bringt sie zum Pistenkopf der Runway 34. Da für einen Caravelle-Start 400 m Sicht gefordert waren, entschließt sich der Käpten, die halbe Piste hinabrollen, um sich ein Bild von den Sichtverhältnissen entlang der Startstrecke zu machen. Die Crew lässt dabei die Triebwerke bei angezogenen Bremsen mehrfach aufheulen, um mit dem heißen Abgasstrahl einen Sichttunnel in den Nebel zu blasen. Da dieser 500 bis 800 Meter lange Tunnel nur wenige Minuten frei ist, rollt die Maschine danach schnell weiter, bremst wieder ab und legt den nächsten Tunnel an. Auch während des Zurückrollens wird dieses Verfahren wiederholt. Nach zwei Wendemanövern steht die Caravelle um 07:12 Uhr wieder am Pistenkopf. Um 07:13 wird sie zum Start freigegeben. Während des Steigflugs sehen Zeugen vom Boden aus, wie lange, weiße Flammen am linken Flügelansatz herausschlagen. Um 07:20 Uhr ist die Maschine auf 9000 Fuß. Um 07:21 ist ein Mayday-Ruf des Co-Piloten zu hören. Um 07:22 Uhr schlägt die Maschine 35 km hinter dem Flughafen Zürich am Ortsrand von Dürrenäsch auf und hinterlässt einen zehn Meter tiefen und 20 Meter breiten Krater. Alle 80 Insassen sterben beim Absturz.

Und jetzt kommt das kleine Bauerndorf wieder ins Spiel: 43 Passagiere kommen nämlich aus Humlikon. Es sind 19 Ehepaare und 5 Einzelpersonen, darunter sämtliche Mitglieder des Gemeinderates. Sie wollten nach Genf reisen, um sich dort über Schädlingsbekämpfung informieren zu lassen. Mehr als 40 Kinder werden durch das Unglück zu Vollwaisen, sechs zu Halbweisen. Für die meisten dieser Passagiere war das der erste Flug überhaupt. Humlikon hatte damals 217 Einwohner, es verlor also auf einen Schlag ein Fünftel der Einwohner. Da die Ernte eingefahren werden musste, kamen Freiwillige aus allen Teilen der Bevölkerung und leisteten kostenlos 2000 Arbeitsstunden. Mit Spenden aus dem In-und Ausland wurde ein Kindergarten gebaut um Großeltern und Familienangehörige zu entlasten und den Waisen wieder so etwas wie Struktur in ihrem Leben zu geben.

Die Ursache? Das Feuer war im Fahrwerkschacht durch die überhitzten Bremsen während des langen Rollvorgangs und der Triebwerksläufe entstanden. Während dieses Verfahrens erhitzten sich offenbar die Räder so stark, dass die Magnesiumfelgen ihre Festigkeit verloren und beim Wenden am Abflugpunkt mindestens eine Felge brach, deren Bruchstücke man später fand. Beim Einziehen des Fahrwerks wurden Hydraulikleitungen beschädigt, die durch den Fahrwerkschacht führten, entweder durch die Hitze oder mechanisch durch die defekte Felge – worauf sich die auslaufende und damals noch leicht brennbare Hydraulikflüssigkeit an den glühend heißen Bremsen entzündete. Dies führte zum vollständigen Ausfall der Hydraulik, wodurch das Flugzeug nicht mehr steuerbar war.

Andreas Fecker