Luftpost 216: Singijeon

Werbung
An der Demilitarisierten Zone (DMZ) nördlich von Seoul – Archiv: Fecker

Distanzwaffen haben in Korea eine lange Tradition. Schon um 1400 entwickelt man dort den Singijeon, der als Vorlage für die im zweiten Weltkrieg berüchtigt gewordene Stalinorgel gedient haben könnte. Obwohl die Chinesen das Schießpulver als Staatsgeheimnis hüteten, gelang es den Koreanern durch Bestechung eines Kaufmannes Ende des 13. Jahrhunderts an die Rezeptur zu kommen. Sie bestückten damit Feuerpfeile, um die Reichweite zu erhöhen und größeren Schaden anzurichten. Die Startlafette hatte 100 Rohre, deren Pfeile mit einer verbundenen Zündschnur abgefeuert werden konnten. Der Singijeon kam zuerst im koreanisch-japanischen Krieg gegen die Samurai zum Einsatz, die in engen Formationen kämpften. Später benutzte man sie entlang den Küsten, um Piraten abzuwehren. Bis zu 90 dieser Startlafetten standen in einem Einsatz nebeneinander. Die Geräte wurden sogar noch vergrößert, so dass jede Rampe bis zu 200 dieser Pfeilraketen mit einer Reichweite von bis zu zwei Kilometern aufnehmen konnte.

Koreanischer Singijeon aus dem 14. Jahrhundert – Foto: Fecker

Urplötzlich sieht sich die Welt einer neuen Kriegsgefahr gegenüber. Man sagt zwar der Krieg sei der Vater aller Dinge und Not mache erfinderisch. Zwei Sprichwörter, die gerne zitiert werden. Sie wiederholen sich in genau dieser Reihenfolge, denn Krieg zerstört auch Dinge, zerstört wertvolle Kulturschätze, ganze Städte und vor allem Leben und bringt Menschen in Not! Wie man an dem 600 Jahre alten Singijeon sieht, ist es Homo Sapiens offenbar in die Wiege gelegt, Werkzeuge zu ersinnen und Methoden zu verfeinern, mit denen er einem Widersacher schaden, bzw. sich gegen ihn verteidigen kann. Die Gründe und Ursachen dafür sind mannigfaltig und gelten von der Antike bis heute. Sie reichen von Rohstoffbedarf und Machtanspruch über Neid und Habgier zu Hass, Hunger, Durst, Angst, Größenwahn bis hin zur religiösen oder politisch-ideologischen Verblendung.

Und schon sind wir wieder tagesaktuell. Will der Nordkoreanische Machthaber Kim Yong Un als Totengräber Koreas in die Weltgeschichte eingehen, oder ist alles nur ein Bluff, um sich selbst in den Mittelpunkt des Weltinteresses zu rücken und aus dem Schatten seiner Vorväter herauszutreten? Wie sonst ließen sich seine gefährlichen Raketenspielchen und der angedrohte Angriff gegen amerikanische Basen auf Guam oder gar auf das amerikanische Festland erklären? Eine nukleare Antwort auf einen Erstschlag wäre nicht nur für sein Land, sondern für die koreanische Halbinsel und seine Nachbarn verheerend. Ein Angriff auf das amerikanische Festland würde für die NATO außerdem den Bündnisfall nach Artikel 5 des NATO-Vertrages bedeuten. Auch ein konventioneller Krieg könnte Millionen Tote fordern und die Weltwirtschaft erschüttern.

Südkoreanische Strategen schätzen, dass Nordkorea heute etwa 20.000 Artilleriegeschütze nördlich der Grenze in Stellung hat, unzählige Raketen- und Granatwerfer, sowie ein paartausend Panzer. Man hat errechnet, dass bereits an einem ersten Kriegstag Millionen von Zivilisten rund um die Zehn-Millionen-Stadt Seoul dem Geschosshagel zum Opfer fallen würden. Die Flugzeuge meist älterer sowjetischer Bauart auf den etwa 30 Militärflughäfen Nordkoreas stehen in gehärteten unterirdischen Kavernen. Schnellboote, Raketenschiffe, U-Boote, Fregatten und Landungsfahrzeuge machen eine der vier größten Armeen der Welt mit über einer Mio Soldaten unter Waffen und mindestens fünf Millionen Reservisten zu einem ernstzunehmenden Gegner.

Koreanische Halbinsel – Foto: NASA – Overlay: Fecker

Und doch schätzen Militäranalysten in der Region die Kriegsgefahr trotz schärfer werdender Rhetorik und beidseitiger Drohgebärden als wenig wahrscheinlich ein. Sonst würden zum Beispiel die USA Botschaftspersonal und Familienangehörige ihrer dort stationierten 28.000 Soldaten bereits evakuieren. Dort leben außerdem noch einmal hundert- bis zweihunderttausend Amerikaner, die auf Empfehlung des Pentagon seit Jahren stets einen gepackten Koffer pro Person griffbereit haben. Gleichzeitig käme es zu einer auffällig anschwellenden Reisetätigkeit von Diplomaten und Außenministern aus den verschiedensten Ländern. Die Verlegung von militärischem Personal und Material in die Region würde kaum unter dem Radar der Öffentlichkeit bleiben, da diese gigantische Ausmaße annimmt. Eine Armada von amerikanischen Kriegsschiffen und Flugzeugträgern würde Kurs auf die Gewässer rund um die koreanische Halbinsel nehmen. Tanker- Kampf- und Bombergeschwader würden in die benachbarten Länder verlegt und auf Inselstützpunkte zwischen Diego Garcia und Okinawa verteilt.

Zur Erinnerung: Der Aufmarsch der amerikanischen Streitmacht im Mittleren Osten vor dem Irak-Krieg 1991 dauerte fast ein halbes Jahr. Dann allerdings standen Saddam Hussein eine Million technisch hochgerüsteter Soldaten gegenüber. Derzeit erhöht Peking den Druck auf Nordkorea. Erfahrene Diplomaten bedienen sich in der Krise normalerweise einer sehr feinsinnigen Wortwahl, die man derzeit beidseitig noch vermisst. Schnell haben sich die Parteien dabei in eine Ecke manövriert, aus der sie nicht mehr herauskommen, ohne unglaubwürdig zu wirken. So könnte ein Missverständnis, ein Computervirus, ein Stromausfall in Nordkorea fälschlich als Angriffsvorbereitung interpretiert werden und zu einer folgenschweren Reaktion führen.

Leider gibt es eine grundlegende Unwägbarkeit: Sind die Protagonisten im Vollbesitz ihres Verstandes? Wissen sie was sie tun? Können sie die Tragweite ihres Handelns und ihrer Rhetorik wirklich einschätzen? Durch diplomatische Finesse ist bisher noch keiner der Kontrahenten aufgefallen. Und hatten wir das nicht schon mal? In der EU befürchten manche bereits den gefährlichsten Konflikt seit dem Zweiten Weltkrieg.

Da wünscht man sich den oben beschriebenen Singijeon zurück. Damit konnte man zwar auch dem einen oder anderen Angreifer den Tag versauen, aber man stürzte nicht gleich die halbe Welt ins Unglück.

Andreas Fecker