Luftpost 173: Entscheidungen

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Foto: Bildarchiv Fecker

Vor 44 Jahren, am 13. Oktober 1972, startete eine Rugby Mannschaft vom argentinischen Mendoza mit einer Fairchild-Hiller FH-227D der Luftwaffe Uruguays zu einem Spiel ins 195 km entfernte Santiago de Chile. Der Flug über die Anden war Routine. Käpten Julio Cesar Ferradas hatte 5117 Flugstunden im Log und hatte bereits 29 Mal die Anden überquert. An jenem Tag konnte er aber nicht direkt fliegen, weil sich hohe Wolken über den Berggipfeln türmten. Er stieg auf 5000 Meter und folgte der wolkenverhüllten Gebirgskette nach Süden, bis er sich über einem Pass wähnte, den er in seiner Höhe sicher überqueren konnte. Die Längen der Strecken berechnete er mit dem Fahrtanzeiger und der Stoppuhr. Was er nicht mit einkalkuliert hatte, war der starke Gegenwind.

Als er die Flugsicherung in Santiago rief und seine vermeintliche Position über dem chilenischen Curicó angab, bat er um Sinkflug in Richtung Santiago. Doch in Wahrheit befand er sich ca. 90 km östlich, unter ihm Berge mit 4500 Metern Höhe. Der Sinkflug wurde genehmigt, Ferradas tauchte in die Wolken ein. Das Flugzeug wurde von heftigen Turbulenzen geschüttelt. Plötzlich erschien vor dem Cockpitfenster der Gipfel des 4200 m hohen Vulkans Tinguiririca. Ein Ausweichen war nicht mehr möglich. Beim Kontakt mit dem Felsen brach die rechte Tragfläche und nahm das Heckleitwerk gleich mit. Sechs Passagiere wurden durch das klaffende Loch herausgerissen. Die linke Tragfläche brach an einen zweiten Berg ab. Ein Propeller schlitzte dabei den Rumpf auf. Wie ein Torpedo schoss die flügellose Röhre weiter, prallte auf einem steilen, schneebedeckten Hang und rutschte 600 Meter in die Tiefe. Auf 3600 m blieb die Flugzeug Karkasse in einer Schneewehe stecken. Das Cockpit wurde dabei eingedrückt, die Piloten zerquetscht.

Von den 45 Personen überlebten 33 den Crash. Doch niemand war auf nächtliche Temperaturen um die -40 Grad vorbereitet. Schließlich war es Sommer auf der südlichen Halbkugel, der aber noch nicht in dieser Höhe angekommen war. Den folgenden Morgen sahen nur noch 28 von ihnen. Die Überlebenden nutzten den halboffenen Rumpf und errichteten aus Trümmern, Koffern, T-Shirts und Rugbytrikots einen provisorischen Unterschlupf, wo sie sich halbwegs vor der Kälte der kommenden Nacht schützen konnten. Niemand ahnte, dass sie die nächsten 72 Tage und Nächte darin verbringen würden. Außer ein paar Energieriegeln und einigen Flaschen Wein gab es kaum Essbares an Bord. Im Gepäck fand sich aber ein Transistorradio, mit dessen Hilfe sie die Nachrichten über die Suche verfolgen konnten. Suchmannschaften aus Chile, Argentinien und Uruguay waren mit Flugzeugen unterwegs, suchten jedoch überwiegend auf chilenischer Seite der Anden. Außerdem war der weiße Rumpf im Schnee aus der Luft nicht auszumachen. Am elften Tag hörten sie in den Nachrichten, dass die Suche eingestellt wurde, weil sich niemand vorstellen konnte, dass jemand bei diesen Temperaturen überleben kann.

Während sich nun Resignation breitmachte, schlug die Stunde des 23-jährigen Fernando Parrado, der bei dem Absturz seine Mutter und seine Schwester verloren hatte. Er kommentierte die niederschmetternde Nachricht mit den Worten „Endlich mal gute Neuigkeiten!“ „Was zum Teufel soll daran gut sein, wenn man uns aufgegeben hat?“ „Weil wir jetzt unsere Rettung selbst in die Hand nehmen werden.“ Tatsächlich entfachte er in der Gruppe damit neuen Lebensmut. Ein Problem war der Hunger. Die Gruppe versuchte, das Leder der Koffer zu kauen. Sitzpolster wurden aufgeschnitten, in der Hoffnung Stroh darin zu finden. Bei Temperaturen zwischen -20 und -40 Grad benötigt der Körper Brennstoff, besonders in großen Höhen. Also trafen sie gemeinsam die pragmatische Entscheidung, sich vom gefrorenen Fleisch der Toten zu ernähren.

In den folgenden Tagen beriet die Gruppe, wie man Hilfe holen könnte. Da begrub eine Lawine die Röhre mit drei Meter hohem Schnee. Acht der Überlebenden starben dabei, darunter auch die letzte der Frauen. Drei Tage waren sie in dem Wrack eingeschlossen, das nun auch noch voller Schnee war. Wieder war es Nando Parrado, dem es gelang, eine Eisenstange durch das Dach der Röhre zu rammen, damit wieder frische Luft hereinkam. Erkundungen in die nähere Umgebung zeigten schnell, dass ein Marsch durch den Schnee wegen der Höhe, dem Hunger, der Austrocknung des Körpers, der Schneeblindheit und der eiskalten Nächte eine Anstrengung bedeuten würde, mit der ein Abstieg ins Tal nur schwer zu überleben sein würde. Trotzdem beschlossen die vier stärksten der Gruppe, auf argentinischer Seite ihr Glück zu versuchen. Unter ihnen natürlich Nando Parrado. Als die Männer ein paar hundert Meter tiefer an dem abgerissenen Heck vorbeikamen, fanden sie die Batterien des Flugzeugs, die noch intakt schienen. Prompt keimte der Plan, sie an das Funkgerät des Flugzeugs anzuschließen. Doch die Batterieblöcke waren viel zu schwer, um sie zum Wrack hochzutragen. Also beschlossen sie, statt weiter ins Ungewisse abzusteigen, am folgenden Tag wieder hinaufzuklettern, das Radio auszubauen und es zu den Batterien zu bringen. Tagelang versuchten sie vergeblich, das Funkgerät zum Laufen zu bringen. Denn die Geräte aus dem Cockpit benötigten Wechselstrom, die Batterien lieferten Gleichstrom. Nach einigen eisigen Nächten im Heck des Flugzeugs stiegen sie wieder auf zu den anderen. Es war Nando Parrado, der auf die Idee kam, Quilt-Isolierung aus dem Flugzeug herauszureißen und einen Schlafsack für das Expeditionsteam zu nähen. Nähzeug hatten sie im Schminkkoffer einer der Frauen gefunden.

Am 12. Dezember brachen drei der Männer auf: Nando Parrado, Roberto Canessa und Antonio Vizintín. Diesmal wandten sie sich nach Westen, was einen Aufstieg durch den Schnee auf 4650 m Höhe bedeutete. Nach drei Tagen erreichten sie den Bergkamm. Doch dahinter breiteten sich mitnichten die grünen Täler Chiles aus, sondern schneebedeckte Berge soweit das Auge reichte. Parrado weigerte sich, aufzugeben. Und wenn er schon sterben müsste, dann auf dem Weg nach Westen, wo sie Hilfe vermuteten. Er schickte Vizintín zurück, weil sonst die mitgenommene Verpflegung nicht reichen würde. Fünf Tage lang schlugen sie sich durch die Berge, bis sie zur Schneegrenze absteigen konnten. Am 20. Dezember sichteten sie drei Männer zu Pferd auf der anderen Seite eines Flusses. Es dauerte noch einen weiteren Tag, bis die Retter bei Parrado und Canessa ankamen.

Parrado kletterte an Bord des Hubschraubers und führte das Rescue Team zum Camp der Freunde. Am 23. Dezember, 72 Tage nach dem Absturz, und ein Tag vor Weihnachten landete der Hubschrauber mit dem letzten der 16 Überlebenden am Krankenhaus in Santiago de Chile. Bei uns redete man vom „Drama in den Anden“, in Südamerika vom „Wunder in den Anden“. Ich sehe darin ein eindrucksvolles Beispiel von Mut und Durchhaltewillen, positivem Denken, auch in scheinbar ausweglosen Situationen.

Nando Parrado wurde inzwischen zu einem gefragten Redner. Er hält Vorträge bei den größten Konzernen der Welt über Leadership, Freundschaft, Zusammenhalt, Motivation und Strategien. Einer seiner Lehrsätze ist: „Es ist besser eine Entscheidung zu treffen und dabei einen Fehler zu machen, als sich nicht zu entscheiden. Denn es ist immer Zeit, umzukehren.“

Von Andreas Fecker