Luftpost 169: Punktlandung

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Andreas Fecker Foto: Bildarchiv Fecker

„Sag mal, Bob, täusche ich mich, oder ist mit unserem rechten Triebwerk etwas nicht in Ordnung“, fragte Kopilot Dirk De Jager seinen Käpten. Nach kurzer Beobachtung stellten sie fest, dass die Öl-Anzeigen des rechten und des linken Triebwerks unterschiedlich waren. Der Airbus A330 von Air Transat befand sich auf dem Flug von Toronto nach Lissabon. Die Crew rief ihr Wartungscenter in Montreal und teilte die Beobachtung mit. Kurz darauf entdeckten sie ein Ungleichgewicht zwischen dem rechten und linken Flügeltank. Durch Öffnen eines Ventils konnte das ausgeglichen werden. Bald machten sie eine beunruhigende Entdeckung: Der Treibstoff würde nicht bis Lissabon reichen.

„Wie weit bis zur portugiesischen Küste?“ „1000 km.“ „Wie weit bis zur kanadischen Küste?“ „2000 km.“ „Wie weit bis zu den Azoren?“ „240 km.“ Wenn einem mitten in der Nacht über dem Atlantischen Ozean der Sprit ausgeht, ist das eine blöde Situation, selbst für einen Käpten mit 17.000 Flugstunden. „Ruf das Oceanic Control Center und erkläre Luftnotlage.“

Um 01:13 Uhr stand das rechte Triebwerk, um 1:26 das linke. Das zweimotorige Großraumflugzeug segelte antriebslos über dem nächtlichen Atlantik. Noch hatte es eine Höhe von 10.000 Metern, aber es war auch noch 120 km von der rettenden Lajes Air Base auf der Insel Terceira entfernt. Hydraulikdruck und Strom werden von den Triebwerken erzeugt. Fallen diese aus, wird ein kleines Hilfsaggregat, ähnlich einem Dynamo, aus dem Rumpf herausgeklappt. Diese RAM Air Turbine liefert gerade mal genug Strom für die notwendigsten Instrumente. Die für Klappen, Luftbremsen und Fahrwerk notwendige Hydraulik steht jedoch nicht zur Verfügung. Das Fahrwerk wird über die Schwerkraft notausgefahren. Dazu darf das Flugzeug aber nicht zu schnell sein, sonst verhindert der Fahrtwind das Einrasten des Bugfahrwerks. Ist die Maschine zu langsam, liefert das Stromaggregat nicht genügend Strom. Käpten Piché musste also die richtige Balance zwischen der verbleibenden Strecke, der Höhe, der Sinkrate und der Geschwindigkeit finden, ein Herausforderung, die wohl jeder Segelflieger kennt, der einmal seine Thermik verloren hat. Allerdings kreist dieser Segelflieger nicht mit 300 Menschen an Bord bei Nacht über dem Atlantik. Die Flugsicherung in Lajes unterstützte den ‚Airbus mit Handicap‘ bei der Navigation.

In der Kabine bereiteten die Flugbegleiter die 293 Passagiere auf eine mögliche Notwasserung vor. Die Stimmung war trotz ausgestrahlter Zuversicht nicht gerade gut. Mit einem Vollkreis drückten die Piloten überschüssige Höhe weg. Dann segelte das Großraumflugzeug mit 370 km/h auf die 3000 Meter lange Piste zu, zu schnell für eine normale Landung. Ein erster harter Kontakt mit der Piste 300 m hinter der Schwelle schleuderte das Flugzeug noch einmal empor, der zweite Kontakt war nach 850 Metern. Der erste Kilometer der Piste war damit verschenkt. Das Antiblockiersystem stand nicht zur Verfügung. Beim zweiten Kontakt bremsten die Piloten, was das Zeug hielt, um das Flugzeug vor dem Pistenende und dem Abgrund zum Stehen zu bringen. Die  acht Räder des Hauptfahrwerks blockierten, die Reifen platzten, Teile des Fahrwerks durchschlugen den Rumpf, das Flugzeug rutschte auf weißglühenden Felgen die Piste entlang, kam aber 700 Meter vor dem Ende zum Stehen. Alle Passagiere evakuierten die Maschine über die Notrutschen.

Kleine Ursache, große Wirkung. Wie konnte das passieren? Die kanadische Air Transat musste vor dem Flug nach Lissabon das rechte Triebwerk austauschen. Rolls Royce stellte leihweise ein TRENT 772 zur Verfügung, lieferte es aber ohne die dazu gehörende Treibstoffpumpe. Gegen die Bedenken der Triebwerksmechaniker ordnete die Airline an, die Pumpe des alten Triebwerks zu verwenden. Die leicht unterschiedlichen Anschlüsse für Treibstoff und Hydraulik wurden passend gebogen. Als die Leitungen im Betrieb jedoch unter Druck standen, wurden sie in die ursprüngliche Lage zurückgedrückt, berührten sich und scheuerten aneinander. Bald entstand ein 8 cm langer Riss an der Treibstoffleitung, durch den Kerosin aus der Zuleitung spritzte.

Die Airline akzeptierte eine Strafe von 250.000 Dollar, Käpten Robert Piché und First Officer Dirk De Jager hingegen erhielten die höchste fliegerische Auszeichnung Kanadas und gingen mit dem längsten Segelflug eines Passagierjets in die Luftfahrtgeschichte ein. Die A330 wurde repariert und versah noch viele Jahre ihren Dienst bei Air Transat. Die Episode um den Atlantic Glider zeigt wieder einmal, dass Fliegen trotz gelegentlicher Zwischenfälle eben doch die sicherste Methode der Fortbewegung ist.

Von Andreas Fecker