Luftpost 139: Blinder Passagier 1

Werbung
Blinder Passagier nach Alaska – Foto: Fecker

Blinde Passagiere haben geringe Überlebenschancen. Seit Ende des Zweiten Weltkrieges sind 100 Fälle dokumentiert. Drei Viertel davon endeten tödlich. Das liegt vor allem daran, dass diese Menschen in einen Fahrwerkschacht klettern und meinen, sie könnten sich vor der Landung gut festhalten, und bräuchten dann am Ziel ihrer Träume nur noch herabklettern und davonlaufen. Dass manche von ihnen beim Einziehen des Fahrwerks erdrückt werden, dass sie in großen Höhen, in denen die Jets heute fliegen erfrieren, dass ihre Muskulatur so taub ist, dass sie selbst nach kürzeren Strecken den Landestoß nicht abfedern können, ist ihnen vorher nicht bewusst. Heute bekenne ich öffentlich, dass ich vor 45 Jahren eine ähnlich leichtsinnige Dummheit begangen habe: Ich bin als blinder Passagier von Seattle nach Alaska geflogen. Und bevor man jetzt ungläubig, erstaunt oder entsetzt weiterliest, das war 1971. Es war in einem entlegenen Teil der Welt und die Zeiten waren anders. Offenbar habe ich das auch etwas geschickter angestellt. Trotzdem würde so etwas heute in einem Zinksarg oder hinter Gittern enden. Also, lieber Leser, denk nicht mal dran! Hier ist die ganze Geschichte:

Ich reiste 1971 per Anhalter kreuz und quer durch die USA, von New York nach Chicago, von dort nach Denver, weiter zum Grand Canyon, nach Tucson und über San Francisco bis nach Seattle. Ich hatte mir in den Kopf gesetzt, nach Alaska zu trampen. Aber an der kanadischen Grenze war Schluss, da mein Bargeld auf ungefähr fünf Dollar geschmolzen war. Und die Zöllner bestanden auf einem Geldvorrat von mindestens 100 Dollar, die sie sich auch vorzählen ließen.

Also begab ich mich zum nicht-öffentlichen Teil des Flughafens Seattle-Tacoma und fragte Privatpiloten, ob sie in Richtung Alaska flögen und mich mitnehmen könnten. Doch keine der Cessnas und Pipers hätte die zweieinhalbtausend Kilometer bis nach Anchorage geschafft. Außerdem fiel ich den Angestellten langsam auf den Wecker. Jemand rief die Polizei und die schickte mich weg. Ratlos und niedergeschlagen setzte ich mich in eine Cafeteria für Flughafenarbeiter und versuchte, mich mit dem Umstand abzufinden, dass ich auf dieser Reise nicht nach Alaska kommen würde. Da kam ein Flugzeugtankwart zur Tür herein, mit dem ich schon zuvor ein paar Worte gewechselt und meine Pläne offenbart hatte. Ich winkte ihn zu mir an den Tisch und lud ihn zu einem Kaffee ein, den ich mir gerade noch leisten konnte. „Hey“, sagte er, „wir kriegen nachher eine zivile Hercules herein. Die wird nach dem Entladen betankt, nimmt neue Ware auf und fliegt dann nach Alaska. Vielleicht kannst Du ja mal mit dem Käpten reden?“

Gesagt, getan. Es sollte aber trotzdem nichts werden. Der freundliche Käpten erklärte mir, dass er nur Fracht und seine 5-Mann-Crew transportieren dürfe, keine Passagiere. „Aber, ich will dir irgendwie helfen. Wir sind ein paar Stunden in Verzug. Wenn Du mit anpackst, die Maschine zu beladen, zahle ich dir 5 Dollar die Stunde.“ Nach knapp drei Stunden steckte er mir 15 Dollar zu. Ich durfte noch ins Cockpit, der Kopilot machte ein Foto, dann verabschiedeten wir uns. In einem unbeobachteten Moment huschte ich mit meinem Gepäck zurück zum Flugzeug, sprang auf die Laderampe und kletterte in die Netze, mit denen die Ladung festgezurrt war. Bald kam die Crew an Bord, Rampe und Türen wurden geschlossen. Mir schlug das Herz bis zum Hals, ich war unterwegs nach Alaska! Als blinder Passagier. Keine Ahnung, wie ich ohne Geld von dort wieder in 10 Tagen nach New York kommen sollte, von wo mein gebuchter Rückflug nach Deutschland gehen würde. Erst einmal erfüllte ich mir meinen Kindheitstraum.

Während die Maschine höher und höher stieg, wurde es hier hinten kälter und kälter. Ich wühlte in meiner Reisetasche und zog alles an, was ich fand. Nach zwei bis drei Stunden im eiskalten Laderaum änderte sich das Dröhnen der vier Motoren. Ich schaute aus dem Bullauge in die Dunkelheit. Vereinzelte Lichter tauchten auf, keine Großstadt, wie ich mir Anchorage vorstellte. Wo sind wir hier? Was passiert da? Ein paar Kurven, das Fahrwerk fuhr aus, die Maschine setzte auf und bremste stark ab. Die Motoren wurden abgestellt, der Lademeister senkte die Rampe und begann die Netze zu lösen. Es kam, wie es kommen musste. Ich hatte keinen Platz mehr zum Verstecken. Der Lademeister war auch das Crewmitglied mit dem wenigsten Humor. Er packte mich an der Jacke und zerrte mich aus dem Flugzeug zu den Piloten. „Schaut, wen ich da gefunden habe; den Tramp aus Seattle! Ich hol die Polizei.“

Im Fernsehen käme an dieser Stelle die Werbung. Den Rest der Geschichte erzähle ich in der nächsten Luftpost.

Von Andreas Fecker

2 Antworten zu “Luftpost 139: Blinder Passagier 1”

  1. Tom sagt:

    Hi Andy
    Im Fernsehen kommt nur bei den „Privaten“ an dieser Stelle Werbung – deswegen mag ich die immer weniger! Also: erzähl schon!
    Tom

    • Andreas Fecker sagt:

      Lieber Tom
      Geduld ist eine Tugend, die einen Teekessel singen lässt, obwohl er bis zur Nase mit kochendem Wasser gefüllt ist!
      🙂
      Andy